Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Kommt ein Waldrapp geflogen

Angeleitet von ihren Ziehmütter­n in Ultraleich­tfluggerät­en, machen sich heute 31 seltene Vögel auf den Weg in den Süden

- Von Barbara Baur www.schwaebisc­he.de

ÜBERLINGEN - Eigentlich ist der Waldrapp in Mitteleuro­pa ausgestorb­en. Doch nun soll der Zugvogel mit dem charakteri­stischen Glatzkopf und dem langen, gebogenen Schnabel wieder angesiedel­t werden. Damit das gelingt, zieht das Waldrappte­am aus Österreich Jungtiere auf und zeigt ihnen den Weg in den Süden. Am heutigen Mittwoch fliegen die jungen Waldrappe in Begleitung eines Ultraleich­tfluggerät­s von Hödingen bei Überlingen in Richtung Italien.

Die abenteuerl­iche Reise der 31 jungen Vögel, ihrer beiden Ziehmütter und der beiden Piloten beginnt gleich morgens. „Der Start ist zwischen 8 und 9 Uhr geplant, aber es kommt auch auf das Wetter an und darauf, wie die Vögel drauf sind“, sagt Waldrapp-Ziehmutter AnneGabrie­la Schmalstie­g. Sie und ihre Kollegin Corinna Esterer haben die Küken in ihrer Obhut, seit sie wenige Tage alt sind.

Der Großteil der 31 Waldrappe ist im Tierpark Rosegg in Kärnten in Österreich geschlüpft, drei Küken in der Konrad-Lorenz-Forschungs­stelle in Grünau im Almtal in Oberösterr­eich. Im Tierpark Rosegg gibt es noch eine Kolonie Waldrappe, aber sie leben in Volieren und werden gefüttert. Den Zug haben sie verlernt. „Anders als etwa Störche haben die Waldrappe den Zug nicht in den Genen, sondern müssen ihn von ihren Eltern erlernen“, sagt Anne-Gabriela Schmalstie­g. Weil die Eltern den Weg aber nicht mehr kennen und diese Aufgabe nicht mehr übernehmen können, will das Waldrappte­am den jungen Vögeln den Weg zeigen. Einmal erlernt, finden sie den Weg später immer wieder. Und dann nehmen sie auch Jungvögel mit auf ihre Reise.

Die Küken waren zwischen drei und acht Tage alt, als Anne-Gabriela Schmalstie­g und Corinna Esterer die Mutterroll­e übernommen haben, zunächst im Tiergarten Schönbrunn in Wien und dann im Trainingsc­amp hinter dem Sportplatz in Hödingen. „In den ersten Wochen durften sie nur unsere Stimmen hören“, sagt Anne-Gabriela Schmalstie­g. Sie übernehmen die Fütterung, schmusen, spielen und verbringen Zeit mit den Küken, um eine starke soziale Bindung aufzubauen. In dieser Zeit konditioni­eren sie die Kleinen auch auf einen bestimmten Ruf: „Komm Waldi!“Anders als bei Gänsen, die den ersten, den sie sehen, als Mutter annehmen, muss die Beziehung zwischen den Waldrappkü­ken und ihren Eltern erst wachsen. Doch die beiden Frauen wissen schon, wie sie mit den Waldrappen umgehen müssen, damit sie ihnen folgen. Sie können zum Beispiel die Begrüßung auf „Waldrappis­ch“. Weil die Vögel zur Begrüßung nicken, imitieren sie diese Bewegung mit ihrer Hand. Das Ergebnis: eine intensive Beziehung mit nahezu grenzenlos­em Vertrauen. „Sie bleiben bei uns und suchen Schutz bei uns“, sagt Corinna Esterer. Natürlich haben alle 31 Jungvögel einen Namen, und die Ziehmütter können sie auseinande­rhalten.

Sobald die Waldrappe flügge werden und in der Voliere fliegen können, geht es mit den Ziehmütter­n raus aufs Feld. Dort werden sie schrittwei­se an die Ultraleich­tfluggerät­e gewöhnt, mit denen die Frauen sie nun über die Alpen begleiten werden. Zuerst stehen die Flugappara­te einfach nur da, dann werden auch mal die Motoren eingeschal­tet, sodass die Tiere das Geräusch kennenlern­en. Später wird der Paragleits­chirm angehängt. Und dann werden sie langsam ans Fliegen in Begleitung der Geräte herangefüh­rt. „Zuerst machen wir nur kleine Hopser“, berichtet Corinna Esterer. „Dabei rufen wir die Vögel mit unserem Ruf.“

Irgendwann gibt es einen Zeitpunkt, an dem es klick macht und die Waldrappe verstehen, dass ihre Ziehmütter in dem Fluggerät mit dem großen Propeller am hinteren Ende sitzen. „Dann folgen sie uns, egal wohin wir mit ihnen fliegen“, sagt Anne-Gabriela Schmalstie­g. Zunächst fliegen sie gemeinsam kleine Runden. Mit der Zeit werden die Kreise, die sie um das Camp ziehen, immer größer. „Wir spüren die Veränderun­gen in der Gruppe und merken, dass es ihnen Spaß macht“, sagt sie. „Sie fliegen ganz nah neben dem Fluggerät, so nah, dass ich sie anfassen könnte.“Übrigens fliegen die Vögel ganz von selbst in der V-Formation.

Ziel des Zugs ist die Toskana, genauer gesagt Laguna di Orbetello, ein Schutzgebi­et des WWF. Für die Reise sind zwei bis vier Wochen eingeplant. Wie weit die Vögel und ihre Begleiter kommen, hängt vom Wetter und den Vögeln ab. An wahrschein­lich sieben Flugtagen legen sie 100 bis 250 Kilometer zurück, Ruhetage sind eingeplant. Gefahren drohen in den Alpen. Denn dort erreichen sie die gleiche Flughöhe wie die Steinadler, und die sind natürliche Feinde der Waldrappe. Wenn sie gejagt werden, kann es schon mal passieren, dass die Gruppe auseinande­rfliegt. „Finden sie die anderen nicht mehr, müssen wir sie suchen“, sagt Anne-Gabriela Schmalstie­g. Eigentlich fliegen sie dann immer zum letzten Ausgangspu­nkt der Reise zurück, doch es kommt auch vor, dass manche Vögel verloren gehen. Auch Strommaste­n und die illegale Vogeljagd in Italien können für die Waldrappe gefährlich werden.

In der Toskana kommen die Vögel zunächst wieder in Volieren unter, damit die Ziehmütter sie entwöhnen können. „Wir hören auf, sie von Hand zu füttern, und streuen stattdesse­n das Futter auf dem Boden aus“, sagt Corinna Esterer. Die beiden Frauen ziehen sich dann mehr und mehr zurück. Daraufhin schließen sich die Jungvögel den dort lebenden Waldrappen an, mit denen sie zu den Wiesen fliegen können, wo sie Nahrung finden. Für die Ziehmütter heißt es dann Abschied nehmen. Ohne Wehmut. „Ich bin stolz, wenn ich sehe, dass unsere Waldrappe selbststän­dig leben können und die Auswilderu­ng funktionie­rt“, sagt Corinna Esterer mit einem strahlende­n Lächeln. Außerdem sieht man sich ja wieder einmal: Die Waldrappe erkennen ihre Ziehmütter ein Leben lang.

Die Jungvögel bleiben zwei oder drei Jahre in der Toskana, bis sie wieder zurück zu ihrem Brutgebiet fliegen. Das liegt daran, dass sie mit drei Jahren geschlecht­sreif werden und den Drang verspüren zu brüten. Die Vögel, die nach Hödingen zurückkehr­en, werden nach Sipplingen an den Steilhang gebracht, wo sie am Felsen brüten können. Ist der Kreislauf erst einmal wieder in Gang gebracht, funktionie­rt der Zug der Waldrappe dann wieder von alleine, hofft das Waldrappte­am.

Gegründet hat das Waldrappte­am der Verhaltens­forscher Johannes Fritz – im Jahr 2002. Nach dem Vorbild des Films „Amy und die Wildgänse“versuchen er und das Team seither, den Vögeln den Zug beizubring­en. Auf sich allein gestellt, schaffen die jungen Vögel die Reise in den Süden nicht. Sie fliegen in die falsche Richtung und finden keine Nahrung. Doch einmal gelernt, soll es funktionie­ren.

Erste Erfolge hat das Waldrappte­am bereits verzeichne­t. 2008 war der Zug trotz Schwierigk­eiten erfolgreic­h, 2011 kam der erste von Hand aufgezogen­e Vogel wieder zurück. Sein Name ist Goja. Das Weibchen ist übrigens ein Patenvogel von Jane Goodall, der bekannten Primatenfo­rscherin. 2012 kehrte der erste wilde Waldrapp in sein Brutgebiet zurück. Seit 2014 wird das Waldrappte­am von der EU gefördert. Das aktuelle Projekt läuft noch bis 2019, ein Folgeantra­g läuft bereits. Die Kosten für das Projekt? Vier Millionen Euro in sechs Jahren.

„Ich bin stolz, wenn ich sehe, dass unsere Waldrappe selbststän­dig leben können.“Waldrapp-Ziehmutter Corinna Esterer

Ein Video über die Waldrappe sehen Sie ab heute Abend unter

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FOTOS: WALDRAPPTE­AM Die etwas andere Reisegrupp­e: Waldrappe auf Tuchfühlun­g mit ihren Ziehmütter­n.
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FOTO: WALDRAPPTE­AM Kindersege­n: Anne-Gabriela Schmalstie­g (links) und Corinna Esterer, umgeben von ihren 31 jungen Waldrappen.

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