Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Kriegserinnerung: „Wir hatten Angst – jeden Tag“
Christa Neubert schildert ihre Kindheit und Jugend in Potsdam während des Zweiten Weltkriegs
●
BAD WALDSEE - Den Zweiten Weltkrieg und die Besatzungszeit hat Christa Neubert in Potsdam hautnah miterlebt. Die Bombenexplosionen und Bunkernächte sind ihr auch heute noch präsent. Der „Schwäbischen Zeitung“hat die 89-Jährige, die seit der Rente in Bad Waldsee lebt, ihre eindrücklichen Erinnerungen geschildert.
Mit klarem Blick sitzt Neubert an ihrem Esstisch. Sie rückt sich die Brille zurecht, ehe ihre Hand sich zur Faust ballt und plötzlich auf den Tisch haut. Bumm. Sie verharrt, schüttelt den Kopf, öffnet die Handfläche und nimmt einen großen Schluck aus ihrem Wasserglas. Die Sätze, die sie mit ihrer Gestik untermalt hat, hallen nach: „Nach dem Krieg haben Polizisten im Wald hinter unserem Haus die Munitionsreste aufgeräumt und auf einem Haufen zusammengetragen. Sie wollten alles zusammen gezielt sprengen. Der Haufen blieb einen Tag liegen. Als die Nachbarskinder dort hin sind und eine Panzerfaust, die herumlag, auf den Haufen geworfen haben, ist alles in die Luft geflogen – mitsamt den Kindern.“Zum Zeitpunkt der Detonation saß Neubert am Schreibtisch ihres Vaters, vertieft in Schularbeiten. Wieder ballt sich ihre Faust und zieht quer über den Tisch. „Der Krach war so fatal, dass ich ungewollt einen großen Strich quer durch das Heft gezogen und mit der Feder das Papier aufgerissen habe“, sagt sie entsprechend ihrer Handbewegung und mit nun versteinertem Gesicht.
„Wir waren ziemlich abgehärtet“
Ihre ersten 20 Lebensjahre verbrachte Neubert in Potsdam. Einerseits erlebte sie eine glückliche Kindheit, mit Tanz und Spiel im Garten. Andererseits war da der Krieg: „Klar hatten wir Angst, jeden Tag, aber wenn ich es aus heutiger Sicht betrachte, dann waren wir schon ziemlich abgehärtet.“Exemplarisch nennt sie eine Bombenexplosion in ihrer Siedlung. Nur wenige Hundert Meter von ihrem Haus entfernt zerstörte ein Bombeneinschlag ein Einfamilienhaus. „Wir sind sofort hingerannt und haben die Familie aus den Trümmern ausgegraben.“Wie durch ein Wunder überlebten die Bewohner. Eilig schaffte Neubert etwas zu trinken und saubere Kleidung heran. Dann ging es wieder an die Hausaufgaben.
Um sich vor derartigen Bombenangriffen zu schützen, sorgte Christa Neuberts Vater, der bei der Regierung beschäftigt war, dafür, dass die Familie in einem sicheren Bunker übernachten konnte. Und so verbrachte Neubert mehrere Nächte hinter den dicken Mauern. „Es waren 20 bis 30 Personen im Bunker“, schildert die rüstige Rentnerin die damalige Situation. „Einmal brachten andere eine Kiste mit zehn Flaschen Brandy mit. Da haben wir alle unsere Zahnputzbecher herausgeholt, eingeschenkt, getrunken und gegrölt. Das hat uns gerettet. Weil wir so laut waren, trauten sich die NS-Offiziere nicht rein und haben sich keine Frauen geholt.“Neubert weiß von sexuellen Übergriffen in dieser Zeit. Aber auch von einvernehmlichen Diensten, die die Betroffenen vor dem Verhungern retteten. „Es war eine grausame Zeit.“
Neuberts Alltag war in der Besatzungszeit geprägt vom lauten Geheul aus der Luft. Die im Volksmund bekannten „Rosinenbomber“schafften vor 70 Jahren insgesamt 322 Tage Kohle, Benzin, Medikamente und Nahrungsmittel in den besetzten Westteil Berlins. 300 Flugzeuge waren ständig im Einsatz, alle 90 Sekunden startete und landete eine Maschine in der Stadt. Die Luftbrücke war 280 000 Flüge stark, mehr als zwei Millionen Tonnen Güter wurden so in die Stadt gebracht. „Es war sehr laut, es waren ja auch schwere Lastflugzeuge. Aber wenn man jung ist, dann streift man den Lärm einfach ab “, betont Neubert und schlägt unvermittelt die Hände über dem Kopf zusammen. Ihr Blick richtet sich gen Himmel, ihre Lippen beben: „Aber wir waren froh, dass sie keine Bomben mehr fallen ließen – sondern Essen.“
Die schrecklichen Erlebnisse formuliert sie ausdrucksstark. Die Erinnerungen sind der gebürtigen Potsdamerin präsent. Zwischendurch mischen sich in das düstere Gedächtnis aber auch lebensbejahende Momente. So erzählt sie glücklich von ihrer Ausbildung zur landwirtschaftlich-technischen Assistentin und einer Ballnacht, bei der sie einen MiniKuckuck zugesteckt bekam, um ihre mitgebrachte Wasserflasche als hauseigene Flasche markieren zu können und so den horrenden Preis dafür sparen konnte. Sie lacht.
Heute ist sie stolz auf ihre zehn Urenkel. Für sie und die Welt wünscht sie sich Frieden. „Krieg macht Kummer, Krieg bringt Leid und Krieg kostet Leben. Wie können Menschen so etwas nur machen? Das muss aufhören.“