Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Generalprobe für die demokratische Revolution
Vor 50 Jahren erstickten Panzer gewaltsam die sozialistische Reformbewegung des Prager Frühlings
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WIEN - Am 21. August 1968 marschierten auf Befehl der Sowjetunion Armeen von Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei ein, um eine „Konterrevolution“zu beenden. Gemeint ist der Prager Frühling, der Versuch, Kommunismus und Freiheit in Einklang zu bringen. Die demokratische Revolution glückte erst 20 Jahre danach.
Dem tschechischen Grenzstädtchen Nové Hrady, das damals im militärischen Sperrgebiet lag, sieht man die Rückständigkeit noch heute an. Vom niederösterreichischen Gmünd erreicht man es lediglich auf einer holprigen Straße. Die Region ist nach wie vor dünn besiedelt. Nové Hrady (deutsch: Neustadt), umgeben von Wäldern und Fischteichen, in denen Weihnachtskarpfen gezüchtet werden, ist heute ein beliebtes Ziel für Ausflügler und Pilzesucher dies- und jenseits der Grenze.
Hier verlief bis zur demokratischen Wende 1989 der tödliche Eiserne Vorhang, der über vier Jahrzehnte Europa trennte: in eine westlich kapitalistische und eine östlich kommunistische Welt. Zeugnisse aus dieser Zeit hat Vladimir Hokr, der Bürgermeister von Nové Hrady, in einem kleinen Museum zusammengetragen: Uniformen, Waffen, Alltagsgegenstände und viele Fotos. Die Attraktion sind ein paar Meter doppelläufiger Stacheldrahtzaun auf der Wiese davor.
Eiserner Vorhang
Nicht erst 1989, bereits 21 Jahre früher wäre der Eiserne Vorhang gefallen, hätte der Prager Frühling überlebt. Es war der aus heutiger Sicht naive Versuch des tschechoslowakischen Regimes unter Parteichef Alexander Dubcek, den Kommunismus sowjetischer Prägung demokratisch zu reformieren und ihm, wie er sagte, ein „menschliches Antlitz“zu geben.
Der Übermacht Sowjetunion gefiel das gar nicht: Ein halbes Jahr lang sah sie dem Treiben zu, dann beschlossen am 17. August 1968 Kremlchef Leonid Breschnew und die Führer von vier weiteren Warschauer-Pakt-Staaten – Polen, Ungarn, Bulgarien und DDR – den Einmarsch in die Tschechoslowakei, um die angeblich vom Westen gesteuerte „Konterrevolution“niederzuschlagen. Vier Tage später, am Morgen des 21. August, besetzten 600 000 „brüderliche“Soldaten das Land, nahmen Flughäfen, Bahnhöfe, Regierungs- und Parteizentralen sowie Radio- und TVSender unter Kontrolle. DDR-Soldaten durften indes nicht mit einmarschieren. Moskau fürchtete, die Invasion könnte mit dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Tschechen 1939 verglichen werden. Rumänien nahm gar nicht erst teil.
Von dem politischen Beben spürte man im abgelegenen Nové Hrady allenfalls ein leichtes Zittern. Proteste gab es hier kaum, die Bewohner waren überwiegend parteitreu, viele davon Soldaten und Polizisten.
Im fernen Prag fand derweil eine Art Weltuntergang statt, namentlich für alle Menschen, die an Dubceks Reformfrühling geglaubt hatten. Mehr als eine Woche leisteten Tschechen und Slowaken mit Kind und Kegel passiven Widerstand, trommelten mit nackten Fäusten auf Panzer, verdrehten Orts- und Straßenschilder, um die Besatzer irrezuführen; Wohnungen dienten als provisorische Radiostationen, um das Volk am Laufenden zu halten. An westliche Staaten ging der Aufruf: „Helft uns, Breschnew spielt verrückt.“
Die Hilfe blieb freilich aus, bis Jahresende starben über 400 Menschen bei Protesten und Schießereien nervöser Soldaten. Den tragischen Schlusspunkt setzte der knapp 21-jährige Student Jan Palach, der sich im Januar 1969 auf dem Prager Wenzelsplatz aus Protest und Enttäuschung selbst verbrannte.
Wie alles begann und endete, darüber erzählten 50 Jahre später jenseits der Grenze von Nové Hrady, im niederösterreichischen Weitra, Zeitzeugen bei einer Gedenk-Matinée, zu der kürzlich die Stadt und ein Zeitgeschichte-Institut in das historische Schloss geladen hatten.
„Der Prager Frühling ist nicht vom Himmel gefallen“, sagte Vaclav Klaus, bis 2013 tschechischer Präsident, in seinem Referat. Noch ehe für Demokratie und Freiheit demonstriert wurde, habe die tiefe Wirtschaftskrise seit Beginn der 1960erJahre die KPC zu Selbstkritik gezwungen. Die Mangelwirtschaft, die täglichen Warteschlangen vor Geschäften, befeuerten Protest und Unmut gegen die Partei. Der Nationalökonom Ota Šik sah in der Zulassung von ein bißchen Privatwirtschaft die Lösung, die er großspurig einen „dritten Weg“zwischen kommunistischer Plan- und westlicher Marktwirtschaft nannte. „Ich musste dem Šik sagen, dass das nicht funktioniert“, erinnert sich Klaus, der als Jungakademiker an dem sogenannten Aktionsprogramm beteiligt war. Šik ging später ins Schweizer Exil, wo er unter anderem an der Hochschule St. Gallen lehrte.
Den entscheidenden Funken für den Reformfrühling zündete die kulturelle Elite. Auf dem vierten Schriftstellerkongress im Juni 1967 forderten Autoren wie Ivan Klima, Pavel Kohout, Vaclav Havel und Milan Kundera – später auch die Galionsfiguren der demokratischen Wende 1989 – die Aufhebung der Zensur und übten harte Kritik am totalitären System. Weil auch Streiks und Unruhen drohten, reagierte die Partei: Anfang Januar 1968 wurde der Stalinist Antonin Novotný abgesetzt und der 46jährige Slowake Dubcek zum Nachfolger gewählt, der sich sogleich ans Reformwerk machte. Noch nie hatte man einen so freundlichen, eher unbedarft wirkenden Parteichef gesehen, das Volk liebte ihn. Innerhalb weniger Tage gab es westliche Zeitungen zu kaufen; die Menschen spürten ein Gefühl der Freiheit, sie konnten reisen, sogar ins westliche Ausland, die Wirtschaft begann sich zu erholen.
Nach Moskau entführt
Nach der militärischen Invasion wurden Dubcek und seine Freunde auf Umwegen nach Moskau entführt und in tagelangen Verhören gezwungen, ihren Reformideen abzuschwören. Danach folgten blutige Säuberungen.
Die meisten Tschechen und Slowaken, die seit 1993 in getrennten Staaten leben, messen dem Prager Frühling heute keine große historische Bedeutung mehr bei. 1968 war allenfalls die Generalprobe für die demokratische Revolution 1989, heißt es.