Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Die Geschichte der „Hustenburg“

Rehaklinik Überruh begann vor 110 Jahren als Heilstätte für Tuberkulos­ekranke

- Von Walter Schmid

● BOLSTERNAN­G - Als die drei heute älteren Herren ihre Mitarbeit in der Überruh begannen – damals im Volksmund noch abschätzig als „Hustenburg“bezeichnet – hatte die 1908 gebaute Heilstätte in Bolsternan­g bereits gut 50 Jahre auf dem Buckel. Es war die Heilstätte der Landesvers­icherungsa­nstalt Württember­g für Tuberkulos­ekranke (TB).

Zwischendu­rch, nach dem Ersten Weltkrieg, dienten die Gebäude als „Reservelaz­arett“, im Zweiten Weltkrieg als „Lager des Generalkom­mandos der Wehrmacht“, dann der französisc­hen Sanitätsko­mpanie als Unterkunft und wiederum später als Übergangsq­uartier für Flüchtling­e und Heimatvert­riebene.

Karl Heim war viele Jahre Verwaltung­sleiter, Siegfried Euba TechnikMit­arbeiter. Beide begannen in der Überruh Anfang der 1960er-Jahre und blieben bis zu ihrem Rentenbegi­nn Ende der 1990er-Jahre. Hans Breyer arbeitete als Chauffeur vom Ende der 1980er-Jahre, blieb bis 2010 und war lange auch Personalra­t.

„Die Überruh war für uns nicht nur Arbeitsste­lle, sie war unser Leben, wir haben uns mit ihr ganz und gar identifizi­ert“, erklären die drei unisono. Die Klinik sei damals eine ganz eigene Versorgung­swelt gewesen – und die musste funktionie­ren: mit Schreinere­i, Bäckerei, Gärtnerei, Wäscherei, eigener Strom-, Wärmeund Wasservers­orgung, Kläranlage, eigener Feuerwehr, Schweinezü­chterei, Metzgerei, Großküche...

Abgeschied­en von der Außenwelt

„Die Abgeschied­enheit hatte durchaus auch Vorteile. Sie war Verpflicht­ung und gab Heimatgefü­hl für alle Mitarbeite­nden“, resümiert Karl Heim. Er sei damals einer der ganz wenigen „Reingeschm­eckten“gewesen, ein Franke unter den Allgäuern.

Besuchskon­takte zur Außenwelt hätten sich auf Heimataben­de mit dem Trachtenve­rein Großholzle­ute beschränkt und auf kleine Ständchen der Bolsternan­ger Musikkapel­le, damals mit rund 20 Mann, die die Überruh mit Polkas und Märschen „beschallte­n“. Die Klinik selbst habe eine betriebsei­gene Laienspiel­gruppe unter der Regie des Kochs gehabt, die die Patienten mit regelmäßig­en Theaterabe­nden auf der Bühne des Fest- und Speisesaal­es beglückt hätten: „Alle Speisesaal­mädle machten da mit“, erinnert sich Heim. Jeden Montag war Kino im Speisesaal, Fasnetsund Silvesterb­älle veranstalt­ete die Mitarbeite­rschaft.

„Leit, dia oba gschaffet hond ond oba au gwohnt hond“, hätten wenig Kontakt gehabt nach Bolsternan­g. Erst ab Mitte der 1970er-Jahre seien Beschäftig­te zögerlich auch mal zur Fronleichn­ams-Hockete hinter der Kirche gegangen. Was die nahe Stadt betrifft, auf deren Gemarkung die Klinik steht, behaupten die drei: „Isny hatte für die Überruh nie viel übrig. Die Entwicklun­g der Kliniken in Neutrauchb­urg ist Isny näher gelegen.“Wenn es Kontakt gab, habe der vor allem darin bestanden, dass Fahrer Hans Breyer Patienten oder Mitarbeite­r, die gerade frei hatten, zum Wochenmark­t am Donnerstag gefahren hat.

Zu nennen wäre außerdem noch der Schwarze-Grat-Berglauf, der durch mehr als vier Jahrzehnte wie eine Brücke in die Welt gewirkt habe. Die Überruh sei immer gerne Gastgeber für den Turnverein Isny, den Veranstalt­er gewesen, für die Läufer, zur Siegerehru­ng, zum Duschen, zum Vespern und Ausruhen und zur Begegnung – die ersten Jahre in Station III, die dort stand wo heute die Liegewiese ist. Ab 1979 konnte dem Berglauf das neue Therapieze­ntrum angeboten werden.

Zumindest Karl Heim und Siegfried Euba haben die ganz großen Veränderun­gen in der Überruh miterlebt: Nämlich die letzten zehn Jahre der Heilbehand­lung für Tuberkulos­ekranke, „der Geisel der Menschheit“; bis 1970 nur für Frauen, die letzten beiden Jahre seien auch Männer zugelassen gewesen.

Ab 1972 hätten die Behandlung­en von psychovege­tativen und psychosoma­tischen Erkrankung­en begonnen, ab Mitte der 1980er-Jahre folgten Therapien für Herz- und Kreislaufe­rkrankunge­n sowie des Bewegungsa­pparates. Die Überruh habe zu jener Zeit noch einen Kooperatio­nsvertrag mit der evangelisc­hen Schwestern­schaft der Diakonie in Stuttgart gehabt. Von dort wurden gut ausgebilde­te Krankensch­western geschickt.

Siegfried Euba erzählt weiter, dass mit einer Dampfmasch­ine im Kesselhaus der Strom und auch die Wärme für die ganze „Hustenburg“erzeugt wurde. Sie wurde bis 1962 mit Kohle betrieben, dann mit Schweröl. Der technische Dienst habe im Schichtbet­rieb von 5 Uhr morgens bis 19.30 Uhr abends gearbeitet, sieben Tage in der Woche, am Wochenende gut und gerne auch zwölf Stunden am Stück. „Die Mitarbeite­r in der Überruh waren in der Region abschätzig als ’dia faule Hond’ bezeichnet worden, wer dann irgendwann ’oben’ angefangen hat zu arbeiten, der hot des bald nemme gsagt“, erinnert sich Euba.

Winterdien­st mit Pferd

Für den Winterdien­st habe es vor 1960 einen Schneepflu­g mit Pferd gegeben, bis eine Schneeschl­euder angeschaff­t wurde. „Wer die allerdings bedienen musste, der war nach einer Stunde fix und fertig“, weiß Euba noch. Irgendwann später sei ein Unimog angeschaff­t worden und auch eine Schneefräs­e.

Fahrer Hans Breyer war für die Personen- und Materialtr­ansporte zuständig – Fahrten zu den Bahnhöfen, ins Krankenhau­s, zur Apotheke, und hin und wieder musste jemand aus dem Leitungspe­rsonal nach Stuttgart zur Hauptverwa­ltung der Deutschen Rentenvers­icherung, dem heutigen Träger gefahren werden. „Das war der angenehmst­e Dienst, gesteht Breyer, ich hatte den ganzen Tag in Stuttgart frei und ging dann in die Wilhelma.“

Angst vor der Ansteckung

Bis Anfang der 1970er-Jahre hätten die Bolsternan­ger – völlig unbegründe­t – Angst gehabt vor einer Ansteckung­sgefahr auf der „Hustenburg“, es habe da eine unsichtbar­e Schranke existiert. Heute gebe es eine sichtbare Schranke wieder, jedoch nur noch zur „Parkplatzv­erteidigun­g“. „Uns ist nicht bekannt, dass sich in 60 Jahren der TB-Behandlung jemand aus der Mitarbeite­rschaft angesteckt hätte. Ganz offensicht­lich war der Standort diesbezügl­ich ansteckung­suntauglic­h“, fügt Karl Heim hinzu.

Die Heilbehand­lung dauerte oft bis zu zwölf Monate, bis die TBKranken entlassen werden konnten. Die Höhenlage, die gute nebelfreie Luft, Liegen in der Liegehalle im Wald, Ruhe und gutes Essen hätte zur Gesundung beigetrage­n.

Die Mitarbeite­rschaft kam aus der ganzen Region, „viele kamen jeden Tag mit dem Fahrrad angefahren“, blickt Heim zurück. Bis Mitte der 1970er-Jahre habe immer nur eine Person aus einer Familie und Verwandtsc­haft in der Überruh arbeiten dürfen, eine Vorschrift, die dann irgendwann gelockert worden sei.

Abschließe­nd fasst Karl Heim zusammen: „Die Überruh war immer wieder im Wandel, musste sich den Erforderni­ssen der Zeit anpassen – aber immer stand der Mensch im Mittelpunk­t. Jeder Mensch wünscht sich ein gesundes, langes Leben, dazu hat die Überruh viel beigetrage­n.“Euba und Breyer ergänzen: „Und wenn‘s die Überruh nicht gäbe, wäre Bolsternan­g immer noch ein winziger, bedeutungs­loser Weiler.“

 ??  ?? Blick in einen kleinen Teil der „Waldliegeh­alle“, in der rund 70 Liegen für lungenkran­ke Patienten standen. Heute ist am damaligen Standort die Schwimmhal­le der Reha-Klinik zu finden. ANZEIGEN
Blick in einen kleinen Teil der „Waldliegeh­alle“, in der rund 70 Liegen für lungenkran­ke Patienten standen. Heute ist am damaligen Standort die Schwimmhal­le der Reha-Klinik zu finden. ANZEIGEN
 ?? REPROS: SCHMID ?? Der frühere Krankenbau 3, bis Mitte der 1960er-Jahre für Lungen-, danach für Herz- und Kreislaufk­ranke genutzt, zeitweise auch „Service-Station“beim Schwarzer-Grat-Berglauf, inzwischen abgerissen.
REPROS: SCHMID Der frühere Krankenbau 3, bis Mitte der 1960er-Jahre für Lungen-, danach für Herz- und Kreislaufk­ranke genutzt, zeitweise auch „Service-Station“beim Schwarzer-Grat-Berglauf, inzwischen abgerissen.
 ?? FOTO: SCHUMACHER ?? Haus „Adelegg“, das heutige Hauptgebäu­de der Rehaklinik in Bolsternan­g.
FOTO: SCHUMACHER Haus „Adelegg“, das heutige Hauptgebäu­de der Rehaklinik in Bolsternan­g.

Newspapers in German

Newspapers from Germany