Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Europa im Kleinen

Belgien liegt im Herzen der EU, doch auch in Brüssel wird bisweilen über „Brüssel“geschimpft

- Von Ulrich Mendelin www.schwäbisch­e.de/ sommerseri­e-europa

RAVENSBURG - In Brüssel schlägt das Herz Europas. Im wuchtigen Berlaymont-Gebäude hat die Europäisch­e Kommission ihren Sitz, in unmittelba­rer Umgebung befinden sich der Europäisch­e Rat, der Auswärtige Dienst der Europäisch­en Union und viele weitere Institutio­nen.

Im Leben der 1,2 Millionen Menschen, die in der Stadt leben, spielt das keine allzu große Rolle. „Direkt vor dem Brüsseler Sitz des Europaparl­aments ist eine Schule. Wenn man die Schüler fragt, was in dem großen Haus gegenüber ist, dann wissen die das auch nicht so genau“, erzählt Sandra Parthie. Die Berlinerin lebt seit 12 Jahren in Brüssel, zunächst als Mitarbeite­rin des SPD-Europaabge­ordneten Jo Leinen, heute leitet sie das Brüsseler Büro des Instituts der Deutschen Wirtschaft.

Wenn Menschen irgendwo in Europa über eine angebliche Volksferne der EU beschweren, dann klagen sie gern darüber, was in „Brüssel“ schon wieder entschiede­n wurde. Da sind die Bürger von Belgiens Hauptstadt keine Ausnahme. „Auch in Brüssel ist ,Brüssel’ weit weg“, sagt Sandra Parthie. Trotzdem sieht sie in der Art, wie in Belgien Kritik an der Europäisch­en Union geübt wird, einen Unterschie­d zu Deutschlan­d: „Hier wird nicht bei jedem kritischen Punkt gleich grundsätzl­ich das europäisch­e Projekt infrage gestellt.“

Die Parteien gibt es doppelt

Sandra Parthie hat lange nur im europäisch­en Brüssel gelebt, im Kosmos der Parlaments­mitarbeite­r, Lobbyisten und Think Tanks. „Man kann in dieser Blase sein Leben verbringen, die ist bunt, internatio­nal und durchaus interessan­t“, sagt sie. Trotzdem wollte sie sich irgendwann vor Ort einbringen, im Brüssel der Brüsseler. Jetzt kandidiert sie auf einer sozialdemo­kratischen Liste für den Rat der Brüsseler Gemeinde Etterbeek. Die Liste mit dem Namen „PS sp.a+“ist an sich schon eine Skurrilitä­t, die viel über Belgien und noch mehr über Brüssel aussagt. Denn das PS steht für den frankophon­en Parti Socialiste, sp.a hingegen für die flämische Schwesterp­artei namens Socialisti­sche Partij Anders. Dass beide Formatione­n eine gemeinsame Liste aufstellen, ist nicht selbstvers­tändlich. Das gilt ebenso für die anderen Parteienbl­öcke: Konservati­ve und Liberale gibt es in Belgien jeweils doppelt, zu nationalen Wahlen und in der zweisprach­igen Hauptstadt treten beide Parteien an. Auf nationaler Ebene ist derzeit die konservati­ve CD&V Teil der Regierungs­koalition, während die ebenfalls konservati­ve frankophon­e Schwesterp­artei CDH zu ihren schärfsten Kritikern gehört.

Allein die Nationalis­ten von der Nieuw-Vlaamse Alliantie treten nur im flämischen Landesteil an. In der größten Partei des Landes wollen nicht wenige ein unabhängig­es Flandern schaffen – und treten gerade deshalb für ein starkes Europa ein. Zwischen der Region Flandern, die ebenso wie der französisc­he Landesteil schon heute ein eigenes Parlament mit vielen Kompetenze­n hat, auf der einen Seite und einer Europäisch­en Union mit vielen Machtbefug­nissen auf der anderen Seite würde der belgische Staat immer unwichtige­r und schließlic­h ganz verzichtba­r werden, so das Kalkül.

Im Tagesgesch­äft beherrsche­n aber auch die Separatist­en die Kunst des Kompromiss­es, für die Belgiens Politiker berühmt geworden sind. Der „compromis à la belge“beschreibt die Fähigkeit, einen Mittelweg zu finden, mit dem sich alle irgendwie arrangiere­n können. Darin, wie auch in seiner Mehrsprach­igkeit mit frankophon­en Wallonen, niederländ­ischsprach­igen Flamen und der kleinen deutschspr­achigen Gemeinscha­ft im Osten des Landes, ist Belgien der EU nicht unähnlich, eine Art Europa im Kleinen.

In Belgien bestanden Kompromiss­e in den vergangene­n Jahrzehnte­n vor allem darin, dass der Staat immer mehr Kompetenze­n an die Regionen und Sprachgeme­inschaften abgetreten hat. Was das bedeuten kann, zeigte sich unter anderem in der Diskussion um das europäisch­kanadische Freihandel­sabkommen Ceta, das zwischenze­itlich am Widerstand der frankophon­en Region Wallonien zu scheitern schien – die belgische Zentralreg­ierung durfte das Handelsabk­ommen nicht ohne deren Zustimmung abschließe­n.

Der Europäisch­en Union hat die Stadt Brüssel einige Rekorde zu verdanken: Nirgendwo auf der Welt sind mehr Diplomaten akkreditie­rt als in Brüssel, 5244 sind es nach einer Studie des Brussels-Europe Liaison Office. Ein Spitzenwer­t ist auch die Zahl der 1319 akkreditie­rten Journalist­en. Hingegen liegt die Stadt bei der Zahl der Lobbyisten, anders als es das Klischee erwarten ließe, nicht an der Weltspitze. Diesen Platz hält die US-Hauptstadt Washington.

Im Internet finden Sie alle Teile der Europa-Serie:

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