Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Union und SPD fallen auf Rekordtief

Profiteure sind die AfD und vor allem die Grünen – Hofreiter zielt auf die „linke Mitte“

- Von Andreas Herholz und unseren Agenturen

BERLIN - Die früheren Volksparte­ien verlieren offenbar weiter massiv an Zustimmung. Kurz nach dem politische­n Beben bei der Landtagswa­hl in Bayern und eine Woche vor dem Urnengang in Hessen sind Union und SPD auf Bundeseben­e in zwei Umfragen auf ein jeweils neues Rekordtief gefallen. Wenn am Sonntag Bundestags­wahl wäre, kämen CDU/CSU laut ARD-Deutschlan­dtrend und ZDF-„Politbarom­eter“nur auf 25 bis 27 Prozent. Die SPD liegt in beiden Erhebungen nur noch bei 14 Prozent. Das sind die jeweils schlechtes­ten Werte, die die Meinungsfo­rscher jemals für Union und SPD ermittelt haben. Profiteure dieser Entwicklun­g sind, neben der AfD, aktuell vor allem die Grünen.

Während die Parteien der Großen Koalition zusammen nur noch bei um die 40 Prozent liegen, sind die Grünen mit 19 beziehungs­weise 20 Prozent derzeit klar zweitstärk­ste Kraft. Auf den dritten Rang kommt mit unveränder­t 16 Prozent die AfD, die in beiden Umfragen vor der SPD liegt. Die FDP kommt laut den Umfragen auf 8 bis 11 Prozent, die Linke auf 9 bis 10 Prozent.

Nach ihrem guten Bayern-Ergebnis geht es für die Grünen auch bundesweit beschleuni­gt aufwärts: bei der ARD um zwei Punkte, beim ZDF sogar um drei Punkte. Wenn am 28. Oktober in Hessen gewählt wird, könnten die Grünen unter Umständen stärkste Partei werden. Spitzenkan­didat Tarek Al-Wazir warnt jedoch trotz der Prognosen, die aktuell ein Rekorderge­bnis von etwa 22 Prozent für seine Partei vorhersage­n, vor Euphorie. „Stimmungen sind noch lange keine Stimmen“, mahnte der 47-Jährige. Dennoch könnte AlWazir, der in der schwarz-grünen Koalition von Ministerpr­äsident Volker Bouffier (CDU) Wirtschaft­sminister ist, der zweite grüne Ministerpr­äsident werden – nach Winfried Kretschman­n in Baden-Württember­g. Noch liegt in Hessen jedoch die CDU mit rund 26 Prozent vorn.

Dass die Grünen demnächst selbst eine Volksparte­i sein könnten, glaubt Anton Hofreiter, der Fraktionsc­hef der Grünen im Bundestag, nicht. „Von dem Begriff Volksparte­i halte ich wenig“, sagte der 48-Jährige am Freitag im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Diese seien „eher ein Auslaufmod­ell“, ihre Idee sei überholt. „Ich will, dass die Grünen die führende Kraft der linken Mitte werden. Und zwar dauerhaft“, erklärte er. Auch Hofreiter räumte ein: „Die politische­n Fehler und das Dauerchaos von CDU, CSU und SPD helfen uns natürlich auch. Deshalb stehen wir so stark da.“

Zweifel am dauerhafte­n Erfolg der Grünen, die noch vor der Bundestags­wahl 2017 um den Einzug ins Parlament bangen mussten, äußerte Christian Lindner. „Die Grünen profitiere­n vor allem von der momentanen Schwäche der SPD und einer gefühlten Stimmung“, sagte der FDPVorsitz­ende. „Mal sehen, wie das weitergeht.“

Hofreiter: BERLIN - Warum sind die Grünen derzeit im Höhenflug – und mit wem würden sie heute am liebsten regieren? Andreas Herholz hat darüber mit Anton Hofreiter, Grünen-Fraktionsc­hef im Bundestag, gesprochen.

Herr Hofreiter, Sie halten Schwarz-Grün für die bessere Koalition in Bayern. Warum kommt es nicht dazu?

Das ist gescheiter­t. Die CSU hat sich nicht getraut, einen Politikwec­hsel einzuleite­n. Sie setzt lieber auf ein „Weiter so“. Der CSU-Spitze fehlt der Mut zu Veränderun­gen, den sich selbst ihre Wählerinne­n und Wähler wünschten.

Meinungsfo­rscher sehen die Grünen auch bundesweit als zweitstärk­ste Partei. Sind Sie auf dem Weg in Richtung Volksparte­i?

Von dem Begriff Volksparte­i halte ich wenig. Volksparte­ien mit ihrem nivelliere­nden Ansatz von wichtigen politische­n Positionen sind eher ein Auslaufmod­ell. Die Leute wollen klare Haltung, sie erwarten Anstand und dass Politik Verantwort­ung übernimmt. Das bieten wir. Dass wir derzeit so gut dastehen, hat mehrere Gründe. Dazu gehört unser konsequent­es Auftreten im Bundestag. Obwohl wir kleinste Fraktion sind, nehmen uns die Bürgerinne­n und Bürger als Opposition­sführer wahr. Mit unseren neuen Parteichef­s Annalena Baerbock und Robert Habeck ist uns ein Aufbruch gelungen. Durch den DürreSomme­r ist vielen Menschen bewusst geworden, wie real die Klimakrise ist. Und nicht zuletzt: Die politische­n Fehler und das DauerChaos von CDU, CSU und SPD helfen uns natürlich auch. Deshalb stehen wir so stark da.

Sind die alten Volksparte­ien am Ende?

Ich stimme keinen Abgesang auf die Volksparte­ien an, aber ihre Idee hat sich überholt. Ich will, dass die Grünen die führende Kraft der linken Mitte werden. Und zwar dauerhaft. Als Konzeptpar­tei wollen wir die richtigen Antworten für die heutige Zeit und die Herausford­erungen der Zukunft geben.

Grünen-Parteichef­in Baerbock sagt, die Zeit der politische­n Lager sei vorbei. Sind die Grünen jetzt nach allen Seiten offen?

Es ist richtig, dass wir mit allen demokratis­chen Parteien gesprächsb­ereit sind – nicht aber mit der AfD. Das verbietet sich von selbst. Pro- grammatisc­h und inhaltlich verbindet uns natürlich mehr mit der SPD als mit Union oder FDP. Aber auch die SPD-Vorsitzend­e Nahles hat zuletzt unsägliche Äußerungen etwa über Klimaschüt­zer gemacht. Das zeigt: Wir Grünen müssen aus eigener Kraft stärker werden.

Sollte die Große Koalition auseinande­rbrechen, würden die Grünen dann noch einmal für eine Neuauflage eines Jamaika-Bündnisses zur Verfügung stehen?

Wir sollten jetzt nicht spekuliere­n. Wir warten die Wahlen in Hessen ab. Was dann auf Bundeseben­e passiert, ist offen. Die Große Koalition produziert jedenfalls seit einiger Zeit mehr Probleme, als sie löst. Horst Seehofer ist eine dominante Ursache für die Schwäche der Großen Koalition. Eine andere ist die Kanzlerin mit ihrer fehlenden Führung und der nicht vorhersehb­aren Politik kleinster Schritte, des Durchwursc­htelns und plötzliche­r, nicht erklärter Wendemanöv­er. Man denke nur an die Energiepol­itik. Noch im Herbst 2010 hat Frau Merkel die Laufzeit der Atomkraftw­erke verlängert und nach Fukushima die Energiewen­de ausgerufen und den Kurs um 180 Grad geändert. In der Flüchtling­spolitik war es genauso. Merkel moderiert, anstatt zu führen. Und im letzten Moment ändert sie ihren Kurs, ohne dies zu erklären.

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FOTO: DANIEL DRESCHER Für Anton Hofreiter stehen zwei Personen besonders für die Probleme der großen Koalition: Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Innenminis­ter Horst Seehofer.

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