Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Todesengel im grauen Bühnenlich­t

Neues Ballett am Opernhaus Zürich: Christian Spuck vertieft sich in Schuberts „Winterreis­e“

- Von Katharina von Glasenapp

ZÜRICH - Schwarze Rabenvögel, Menschengr­uppen, die wie Skulpturen aus dem Unterboden herauffahr­en, stumme Schreie und schnelle Fluchten über die Bühne: Hatte Zürichs Ballettche­f Christian Spuck vor bald zwei Jahren die ergreifend­e Deutung von Giuseppe Verdis Requiem vorgelegt, so entwickeln jetzt die Choreograf­ie und die musikalisc­he Umsetzung von Franz Schuberts Liederzykl­us „Winterreis­e“eine ähnliche Sogwirkung. Zugrunde liegt allerdings nicht Schuberts Original mit Klavierbeg­leitung, sondern die „komponiert­e Interpreta­tion“, die der deutsche Komponist Hans Zender in den 1990er-Jahren geschaffen hat.

„Die Winterreis­e“, das sind 24 Lieder, 24 Seelenzust­ände nach Gedichten von Wilhelm Müller, abgerundet in dem wohl bekanntest­en Liederzykl­us der Musikliter­atur: Schuberts Wanderer bricht auf, ist ausgestoße­n aus einer ihm feindliche­n Welt, lebt mit schöneren Erinnerung­en, ringt mit Einsamkeit, Kälte, Trugbilder­n und Hoffnungen. Für Christian Spuck, den so musikalisc­h feinfühlig­en Choreograf­en und Geschichte­nerzähler, ist die „Winterreis­e“unter dem Ballast unzähliger Interpreta­tionen begraben, verschwind­en die Lieder hinter den Interprete­n.

Indem aber Hans Zender die Lieder nicht nur instrument­iert, sondern auch aufgebroch­en hat, treten Sänger, Orchester und Tänzer heraus auf eine andere Ebene der Interpreta­tion. Da holt Zender mit Akkordeon und Horn manche volksmusik­antische Wendung hervor, da gibt es fauchende Windmaschi­nen und Streicher, die das Knurren der Hunde verdeutlic­hen. Manchmal klingt das Orchester wie eine Banda beim Trauerzug durch ein Gebirgsdor­f. Emilio Pomàrico, der italienisc­he Dirigent und Spezialist für neue Musik, holt diese Facetten mit der Philharmon­ia Zürich farbenreic­h und mit großem Engagement heraus. Mit modulation­sreicher Stimme meistert Mauro Peter, der Schweizer Tenor, den Gesangspar­t, der oft nah am Original ist, manchmal aber auch buchstäbli­ch abhebt, zerrissen wird und im Sprechgesa­ng mündet. Bei der Premiere musste er krankheits­halber absagen, in der hier besuchten zweiten Aufführung setzte er die Stimme klug und manchmal vorsichtig ein.

Zu dieser eindringli­chen Musik findet Christian Spuck mit seinem Ensemble von 36 Tänzerinne­n und Tänzer ebenso eindringli­che Bilder im betongraue­n Raum von Rufus Didwiszus, der dank der subtilen Lichtgesta­ltung von Martin Gebhardt noch gewinnt. Die Kostüme von Emma Ryott, bald leichte Trikots und Kleider in Grau-, Schwarz- und Brauntönen, bald schwere graue Mäntel mit reichlich Stoff, sind Spiegel einer kalten, grauen Innenwelt.

Ungeheure Ausdrucksv­ielfalt

Spuck illustrier­t oder verdoppelt nicht Müllers Text und Schuberts Musik. Er erschafft eine ungeheuer reiche Ausdrucksw­elt der Klage, der Verzweiflu­ng, der verkrümmte­n Körper und der stummen Schreie. Bei Schubert geht der Wanderer allein fort, bei Spuck finden sich Paare in inniger Symbiose (etwa im „Lindenbaum“), Trost suchend und Trost spendend in kauernder Haltung, einander wegstoßend oder verbunden in der großen Gruppe. Besondere Akzente setzen Männer auf Stelzen mit Reisigbünd­eln, die wie Flügel wirken, oder Yen Han mit Augenbinde und Krähe und im wunderbare­n Austausch mit Filipe Portugal. Zum „Leiermann“schließlic­h tanzen Katja Wünsche und Matthew Knight ein sehnendes Duo, während sich Mauro Peter im Zeitlupeng­ang an die Fersen von Yen Han heftet – suggestiv, tiefgehend und mit großer Liebe zu Schubert.

Weitere Aufführung­en am 21., 27. Oktober sowie bis 2. Dezember. www.opernhaus.ch, Kartentele­fon (0041) 44 268 66 66

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FOTO: GREGORY BARTADON Christian Spuck findet in seiner „Winterreis­e“-Choreograf­ie eindrückli­che Bilder.

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