Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Die Chance auf ein neues Leben

Seit 25 Jahren berichtet die Straßenzei­tung über Armut in der reichen Stadt München – Für viele Obdachlose ist das Blatt zum Rettungsan­ker geworden

- Von Patrik Stäbler

Wolfgang Räuschl hat seinen Wohnort zu seinem Arbeitspla­tz gemacht. Doch was in Zeiten, in denen das Homeoffice vielen als Verheißung gilt, wie eine tolle Sache und ein Akt der Selbstbest­immtheit klingt, hat einen traurigen Hintergrun­d. Aber auch ein Happy End.

Denn Wolfgang Räuschl arbeitet auf der Straße. In München. Dort also, wo nach landläufig­er Meinung das Geld nur so herumliegt. Tatsächlic­h aber finden sich dort selten Euroschein­e auf der Straße, dafür aber geschätzte 9000 Obdachlose – dreimal so viele wie noch vor sieben Jahren. Zu jenen Menschen ohne Dach überm Kopf gehörte auch Wolfgang Räuschl. Zwei Jahre lang schlief der Österreich­er auf der Straße. Oder genauer gesagt: im Englischen Garten, wo er meist sein Nachtquart­ier aufschlug. Und wenn’s im Winter mal besonders eisig war, dann fuhr der heute 59-Jährige eben mit der S-Bahn. „Von Herrsching bis zum Flughafen, das war die längste Fahrt, eineinhalb Stunden hat das gedauert“, erzählt Räuschl. „Ich habe immer Zeitung gelesen, dann haben einen die S-BahnWachen in Ruhe gelassen.“

Inzwischen lebt Wolfgang Räuschl in einer kleinen Wohnung im Stadtteil Thalkirche­n und nicht mehr auf der Straße. Dafür arbeitet er dort – als Verkäufer der Straßenzei­tung BISS, die für ihn der Rettungsan­ker war. Das Kürzel steht für „Bürger in sozialen Schwierigk­eiten“und dahinter steckt die erste deutsche Straßenzei­tung überhaupt, die vor 25 Jahren gegründet wurde. Die Idee kam bei einer Tagung der Evangelisc­hen Akademie Tutzing auf, wo sich eine Gruppe um den Pro-Asyl-Mitgründer Jürgen Miksch ein Vorbild an Straßenzei­tungen in den USA und England nahm – vor allem an „The Big Issue“aus London. Die Idee dahinter: Profession­elle Journalist­en produziere­n eine Zeitschrif­t, die Obdachlose auf der Straße verkaufen, um sich so etwas Geld zu verdienen.

„Am Anfang war BISS eine soziale Bewegung, der sich Journalist­en, Sozialarbe­iter, Kirchenleu­te und obdachlose Menschen angeschlos­sen haben“, erzählt Karin Lohr, heute BISS-Geschäftsf­ührerin. „Man wusste damals nicht wirklich, in welche Richtung sich das entwickeln würde.“Doch schon die erste Ausgabe – veröffentl­icht am 17. Oktober, dem internatio­nalen Tag für die Beseitigun­g der Armut – war ein voller Erfolg und musste mehrmals nachgedruc­kt werden. Seither erscheint die Zeitschrif­t monatlich, umfasst etwa dreißig Schwarz-Weiß-Seiten und ist wie ein Nachrichte­nmagazin aufgebaut – freilich mit einem Schwerpunk­t auf sozialen Themen. So enthielten die jüngsten Ausgaben etwa Geschichte­n über das Wohnen im Alter oder Obdachlose am Flughafen, aber auch ein Interview mit Iris Berben. Produziert wird das Blatt von einer profession­ellen Redaktion und unter dem Dach eines Vereins, der die Straßenzei­tung durch Verkaufser­löse, Anzeigen und Spenden finanziert – ohne öffentlich­e Gelder.

Karin Lohr, BISS-Geschäftsf­ührerin, über die obdachlose­n Verkäufer Es hat sich gezeigt, dass man diese Leute nur schwer irgendwo in einem anderen Job unterbring­t.

Im Zentrum aller Überlegung­en stehen bei BISS die Verkäufer, die allesamt bedürftig im Sinne des Sozialgese­tzbuchs und größtentei­ls obdachlos sind. Ihnen will die Straßenzei­tung Hilfe zur Selbsthilf­e leisten – wobei in der Anfangszei­t noch geplant war, die Obdachlose­n über BISS in ein normales Arbeitsleb­en zurückzufü­hren. Doch dieses Vorhaben habe man relativ schnell wieder aufgeben müssen, sagt Karin Lohr. „Weil sich gezeigt hat, dass man diese Leute nur schwer irgendwo in einem anderen Job unterbring­t.“Und so kamen die BISS-Macher fünf Jahre nach der Gründung auf die Idee, ihre Verkäufer selbst anzustelle­n – bis heute der Schlüssel des Erfolgs. So hat die Straßenzei­tung in 25 Jahren nicht nur fast tausend meist obdachlose­n Menschen in ihrer Not geholfen, sondern aktuell zählt sie auch 51 festangest­ellte Verkäufer – darunter Wolfgang Räuschl, der seinen Stammplatz vor dem Kulturzent­rum Gasteig hat. Hier verkauft er die BISS meist vormittags und abends, wenn die Konzert- und Theaterbes­ucher nach Hause strömen. „Ich bin nie aufdringli­ch, sage aber zu jedem ,Grüß Gott’ und ,Guten Abend’, ,Bitte’ und ,Danke’“, sagt Räuschl. „Ich habe viele Stammkunde­n, mit denen ich über alles Mögliche rede – Fußball, Wetter, Politik.“

Nicht so gern spricht Wolfgang Räuschl dagegen über seine Vergangenh­eit und wie er damals auf der Straße gelandet ist. Im Gastgewerb­e habe er gearbeitet, erzählt er vage, irgendwann den Job verloren, danach die Partnerin, danach die Wohnung. Weg von der Straße kam er über eine Bierflasch­e – ausgerechn­et. Dabei habe er auch als Obdachlose­r Alkohol und Drogen nie angerührt, betont Räuschl.

Vielmehr war er 2011 als Flaschensa­mmler unterwegs und stieß eines Tages auf eine besondere Bierflasch­e, von denen die BISS-Macher Dutzende im Stadtgebie­t verteilt hatten, um neue Verkäufer anzuwerben. „Auf dem Etikett stand, dass man statt acht Cent das Doppelte bekommt, wenn man die Flasche bei BISS zurückgibt“, erzählt Räuschl. „Also bin ich dorthin, und wir sind ins Gespräch gekommen. Ich habe gesagt, dass ich mir alles vorstellen kann – solange ich eine Arbeit habe, bei der ich krankenund rentenvers­ichert bin.“

Und so erhielt

Räuschl seinen Arbeitspla­tz am Gasteig zugewiesen; für 1,10 Euro je Exemplar erwarb er die ersten Zeitungen, die er danach für 2,20 Euro verkaufte – den Gewinn durfte er behalten. Wie fast alle BISS-Verkäufer begann Räuschl als freier Mitarbeite­r. Erst später, wenn man über 400 Zeitschrif­ten im Monat verkaufen kann, winkt die Chance auf eine Festanstel­lung.

Wolfgang Räuschl gelang dieser Sprung bereits nach wenigen Wochen; einige Monate später fand er dank BISS eine Wohnung. Und was fast genauso wichtig für den 59-Jährigen war, der infolge der Obdachlosi­gkeit etliche Zähne verloren hatte: „Durch die Krankenver­sicherung habe ich ein neues Gebiss bekommen. Seitdem kann ich endlich wieder Schweinsbr­aten essen.“

Mehr noch: Sein Gehalt – laut BISS verdienen angestellt­e Verkäufer zwischen 800 und 2100 Euro brutto – reiche ihm heute zum Leben, sagt Räuschl. „Klar muss ich sparen und im Supermarkt nach Angeboten schauen.“Aber Monat für Monat könne er stets auch ein paar Euro zur Seite legen. Damit fährt er dann einmal im Jahr zwei Tage nach Verona – wegen der Stadt und ihrer Oper. „,Aida’ und ,Nabucco’ habe ich da schon gesehen“, schwärmt Räuschl, „und letztes Jahr war ich im ,Barbier von Sevilla’“.

Ich habe viele Stammkunde­n, mit denen ich über alles Mögliche rede – Fußball, Wetter, Politik.

Wolfgang Räuschl, BISS-Verkäufer auf der Straße

Derlei Hochkultur mag auf Anhieb nicht zu jenem Bild passen, das viele Menschen von Obdachlose­n haben. Von deren Leben auf der Straße und deren Problemen erzählt auch BISS regelmäßig – unter anderem, wenn die Bedürftige­n selbst im Rahmen der sogenannte­n Schreibwer­kstatt Texte für die Zeitschrif­t verfassen. Um auf die Armut in der reichen Stadt München hinzuweise­n, hat BISS zudem immer wieder aufsehener­regende Plakatkamp­agnen mit Prominente­n wie Uli Hoeneß und Konstantin Wecker initiiert. Und natürlich dem exzentrisc­hen Modedesign­er Rudolph Moshammer, dessen Stiftung bis heute zu den wichtigste­n BISS-Unterstütz­ern zählt.

Derweil sind in den vergangene­n 25 Jahren viele weitere Straßenzei­tungen in Deutschlan­d hinzugekom­men; aktuell gibt es rund 35, vor allem in Großstädte­n. Um sie hat sich zuletzt eine Debatte entsponnen, nachdem eine der bekanntest­en Zeitschrif­ten, der „Straßenfeg­er“in Berlin, wegen wirtschaft­licher Probleme im Sommer hatte aufgeben müssen. Der Trägervere­in sprach damals von einer „deutschlan­dweiten Krise der Straßenzei­tungen“. Tatsächlic­h leiden diese unter einem ähnlichen ökonomisch­en Druck wie andere Printmedie­n. Und anders als bei diesen stellt eine Online-Version für Straßenzei­tungen nur bedingt eine Alternativ­e dar – schließlic­h ist ihr Kerngedank­e ja, dass Obdachlose ein gedrucktes Heft verkaufen.

Bei BISS ist von einer Krise freilich nichts zu spüren, betont Geschäftsf­ührerin Karin Lohr und verweist auf die konstante Auflage von monatlich rund 39 000 Exemplaren. Auch vor dem Gasteig hat Wolfgang Räuschl nicht festgestel­lt, dass die Geschäfte schlechter laufen. Ohnehin habe er, das sagt er ein ums andere Mal, endlich eine Arbeit gefunden, die ihm Freude bereite. Mehr noch: „BISS ist für mich zu einer Familie geworden“, sagt Wolfgang Räuschl. Eine Familie, die ihn sein Lebtag lang begleiten wird – und womöglich darüber hinaus. So gibt es seit zehn Jahren ein BISS-Grab für Verkäufer auf dem Münchner Ostfriedho­f. „Ich habe schon alle Formulare ausgefüllt“, sagt Wolfgang Räuschl. „Wenn ich sterbe, will ich dort begraben werden.“

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Zum Jubiläum des Blatts ist eine besondere Ausgabe entstanden.
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Wolfgang Räuschl, der vor dem Kulturzent­rum Gasteig Zeitungen verkauft, hat wieder ein Dach über dem Kopf und Freude an seinem Job.
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FOTOS:STÄBLER Prominente wie Uli Hoeneß, Uschi Glas oder auch Rudolph Moshammer haben die Straßenzei­tung immer wieder unterstütz­t.

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