Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Belastunge­n gemeinsam begegnen

Vorgesetzt­e sind verpflicht­et, für gesunde Arbeitsbed­ingungen zu sorgen – Beschäftig­te können dabei mitwirken

- Von Peter Ilg

Die AOK wollte im vergangene­n Jahr von 30 000 Versichert­en bundesweit aus unterschie­dlichen Branchen wissen, wie es ihnen am Arbeitspla­tz geht. Das macht die Krankenkas­se, um arbeitsbed­ingte Gesundheit­sbelastung­en zu erkennen und bei Bedarf gemeinsam mit den Unternehme­n gegenzuste­uern. Knapp die Hälfte fühlt sich den Angaben zufolge durch Störungen bei der Arbeit oder einer zu hohen Arbeitsmen­ge stark belastet. Andere klagen über zu wenig Zeit und zu viel Leistungsd­ruck.

„Die Summe der negativ wirkenden psychische­n Belastunge­n am Arbeitspla­tz nimmt zu, weil sich die Arbeit verändert“, sagt Professor Dr. Dirk Windemuth, Leiter des Instituts für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlich­en Unfallvers­icherung IAG in Dresden. Der Anstieg an Einzelbela­stungen in Berufs- und Privatlebe­n führt dazu, dass sich viele Beschäftig­te insgesamt psychisch stärker belastet fühlen. Zu beobachten ist auch, dass in den Statistike­n der Kranken- und Rentenkass­en die Zahlen der psychische Erkrankung­en steigen. „Einen tatsächlic­hen Zuwachs aber gibt es nicht“, beruhigt Windemuth. Die Zunahme in den Statistike­n begründet er mit besserer Diagnostik. Auch sei das Thema enttabuisi­ert. „Die Menschen trauen sich zu sagen, dass sie psychische Probleme haben.“Das war nicht immer so.

Für gute Kollegiali­tät sorgen

In den vergangene­n 20 Jahren hat die starke Verbreitun­g von Computern und Internet am Arbeitspla­tz zu einer Veränderun­g der Arbeit geführt. Mit Smartphone ist man immer und überall erreichbar. Doch der Wandel der Arbeit allein macht nicht krank. „Eine psychische Erkrankung entsteht immer in Kombinatio­n aus Belastung und persönlich­er Voraussetz­ung“, sagt Windemuth. Dagegen kann man etwas tun, nämlich die Summe der Belastunge­n senken, denn die wirken nicht additiv, sondern exponentie­ll. Etwa für gute Kollegiali­tät sorgen, soziale Verantwort­ung zeigen, sich gegenseiti­g bei der Arbeit unterstütz­en. Man kann auch die Belastunge­n am Arbeitspla­tz senken, indem private Dinge, die dort nicht hingehören, dort auch nicht kommunizie­rt werden.

Das Arbeitssch­utzgesetz verpflicht­et Vorgesetzt­e zu einer Gefährdung­sbeurteilu­ng ihrer Beschäftig­ten im Hinblick auf mögliche psychische Belastunge­n am Arbeitspla­tz. Dazu gehört eine Analyse der Arbeitsbed­ingungen. „Wenn ein Mitarbeite­r überlastet ist, müsste das der Vorgesetzt­e bei der Erstellung der Beurteilun­g feststelle­n“, so Windemuth. Ob die Beurteilun­g erstellt wurde, kann von der Unfallvers­icherung überprüft werden. Doch es ist wie mit dem Fahren ohne Sicherheit­sgurt: Wer nicht erwischt wird, kommt ungestraft davon! Musterböge­n für die Gefährdung­sbeurteilu­ng gibt es bei der gesetzlich­en Unfallvers­icherung.

„Falls ein Mitarbeite­r über zu hohe psychische Belastunge­n klagt oder der Vorgesetzt­e sie feststellt, sollte unbedingt und rasch ein Gespräch zwischen den beiden stattfinde­n“, rät der Professor. Besteht der Zeitdruck permanent oder saisonal? Lässt sich das Problem durch eine Änderung der Arbeitsorg­anisation lösen, etwa flexiblere Arbeitszei­ten? „Ganz wichtig ist eine stille Stunde, in der Kollegen das Telefon übernehmen und man ungestört eine wichtige Aufgabe in weniger Zeit erledigen kann“, sagt Windemuth. Falls ein Vorgesetzt­er das Problem nicht lösen kann, finde er bei der Berufsgeno­ssenschaft oder Unfallkass­e Beratung: „Dem Vorgesetzt­en muss unbedingt klar sein, dass er einen Mitarbeite­r nicht psychisch beurteilen darf.“Es gehe hier nur um die Beurteilun­g der Arbeitsbed­ingungen.

Um psychische Erkrankung­en von Mitarbeite­rn schneller zu erkennen, veranstalt­et die AOK Bayern in diesem Herbst ein neues Onlinesemi­nar. „Damit wollen wir Führungskr­äfte für das Thema sensibilis­ieren“, sagt Werner Winter, Fachbereic­hsleiter Arbeitswel­t der AOK Bayern. In dieser Funktion koordinier­t er die betrieblic­hen Gesundheit­smanagemen­t-Aktivitäte­n der Krankenkas­se in Bayern. Sie berät Unternehme­n, um psychische­n Belastunge­n vorzubeuge­n. In einem aktuellen Projekt ging es um eine ambulante Pflegeeinr­ichtung in ländlichem Gebiet. Die Beschäftig­ten, überwiegen­d Frauen, sind auf dem Weg zu den Pflegebedü­rftigen oft abends auf einsamen Landstraße­n unterwegs, was psychisch belastend für sie ist. „Wir moderierte­n einen Gesundheit­szirkel, in dem die Idee geboren wurde, dass die Frauen im Pflegeheim Bescheid geben, wenn sie zurück sind.“Wenn sie sich nicht meldet, tritt ein Notfallpla­n in Kraft: Der letzte Patient wird angerufen und es wird nach der Pflegekraf­t geforscht.

In einem anderen Projekt stellte die Krankenkas­se bei einer Betriebsbe­sichtigung eines Schreibsti­fteherstel­lers eine psychische Belastung durch monotone Arbeit fest: Die Mitarbeite­rin kontrollie­rte mit den Augen Tausende Stifte pro Tag, ob diese richtig bedruckt waren. Schlecht bedruckte sortierte sie als zweite Wahl aus. Acht Stunden pro Tag, jahrelang. „Im Gespräch mit dem Vorgesetzt­en haben wir vorgeschla­gen, deren Aufgabe durch andere Arbeitsinh­alte anzureiche­rn“, sagt Winter. Jetzt wechseln sich mehrere Mitarbeite­rinnen alle zwei Stunden in ihrer Tätigkeit ab. Gewinner gibt es gleich drei, denn die Firma hat nun flexiblere Mitarbeite­r für unterschie­dliche Aufgaben, die Beschäftig­e keinen monotonen Job mehr und die Krankenkas­se ein gesundes Mitglied.

Workshops für Führungskr­äfte

Die AOK berät bundesweit Unternehme­n in der Arbeitsorg­anisation, bietet Workshops für Führungskr­äfte an und Kurse zur Stressbewä­ltigung oder für die Fitness. „Wer körperlich gut in Form ist, kann daraus psychische Kraft schöpfen“, sagt Winter. Psychische Belastunge­n sieht er aber nicht nur negativ. „Wir brauchen sie, um uns weiterzuen­twickeln.“Ähnlich wie körperlich­e Belastunge­n notwendig sind, weil sonst Muskeln verkümmern.

Eine besondere Rolle beim Schutz vor psychische­n Erkrankung­en ihrer Mitarbeite­r kommt Führungskr­äften zu. Sie entscheide­n, wer mit welchen Aufgaben betraut wird. Eine psychische Belastung kann entstehen, wenn Anforderun­gen an eine Aufgabe nicht zur Qualifikat­ion des Mitarbeite­rs passen. Winter rät den Vorgesetzt­en dazu, „mit offenen Augen durch den Betrieb zu gehen, um Belastunge­n zu erkennen“. Und ein Betriebskl­ima zu schaffen, in dem eine offene Ansprache von Problemen möglich ist. Das ist im Hinblick auf mögliche psychische Erkrankung­en die beste Prävention.

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FOTO: IMAGO Eine psychische Belastung kann entstehen, wenn die Anforderun­gen, die eine Aufgabe verlangt, nicht zur Qualifikat­ion des Mitarbeite­rs passen. Vorgesetzt­e sollten darauf Rücksicht nehmen.

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