Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Belastungen gemeinsam begegnen
Vorgesetzte sind verpflichtet, für gesunde Arbeitsbedingungen zu sorgen – Beschäftigte können dabei mitwirken
Die AOK wollte im vergangenen Jahr von 30 000 Versicherten bundesweit aus unterschiedlichen Branchen wissen, wie es ihnen am Arbeitsplatz geht. Das macht die Krankenkasse, um arbeitsbedingte Gesundheitsbelastungen zu erkennen und bei Bedarf gemeinsam mit den Unternehmen gegenzusteuern. Knapp die Hälfte fühlt sich den Angaben zufolge durch Störungen bei der Arbeit oder einer zu hohen Arbeitsmenge stark belastet. Andere klagen über zu wenig Zeit und zu viel Leistungsdruck.
„Die Summe der negativ wirkenden psychischen Belastungen am Arbeitsplatz nimmt zu, weil sich die Arbeit verändert“, sagt Professor Dr. Dirk Windemuth, Leiter des Instituts für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung IAG in Dresden. Der Anstieg an Einzelbelastungen in Berufs- und Privatleben führt dazu, dass sich viele Beschäftigte insgesamt psychisch stärker belastet fühlen. Zu beobachten ist auch, dass in den Statistiken der Kranken- und Rentenkassen die Zahlen der psychische Erkrankungen steigen. „Einen tatsächlichen Zuwachs aber gibt es nicht“, beruhigt Windemuth. Die Zunahme in den Statistiken begründet er mit besserer Diagnostik. Auch sei das Thema enttabuisiert. „Die Menschen trauen sich zu sagen, dass sie psychische Probleme haben.“Das war nicht immer so.
Für gute Kollegialität sorgen
In den vergangenen 20 Jahren hat die starke Verbreitung von Computern und Internet am Arbeitsplatz zu einer Veränderung der Arbeit geführt. Mit Smartphone ist man immer und überall erreichbar. Doch der Wandel der Arbeit allein macht nicht krank. „Eine psychische Erkrankung entsteht immer in Kombination aus Belastung und persönlicher Voraussetzung“, sagt Windemuth. Dagegen kann man etwas tun, nämlich die Summe der Belastungen senken, denn die wirken nicht additiv, sondern exponentiell. Etwa für gute Kollegialität sorgen, soziale Verantwortung zeigen, sich gegenseitig bei der Arbeit unterstützen. Man kann auch die Belastungen am Arbeitsplatz senken, indem private Dinge, die dort nicht hingehören, dort auch nicht kommuniziert werden.
Das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet Vorgesetzte zu einer Gefährdungsbeurteilung ihrer Beschäftigten im Hinblick auf mögliche psychische Belastungen am Arbeitsplatz. Dazu gehört eine Analyse der Arbeitsbedingungen. „Wenn ein Mitarbeiter überlastet ist, müsste das der Vorgesetzte bei der Erstellung der Beurteilung feststellen“, so Windemuth. Ob die Beurteilung erstellt wurde, kann von der Unfallversicherung überprüft werden. Doch es ist wie mit dem Fahren ohne Sicherheitsgurt: Wer nicht erwischt wird, kommt ungestraft davon! Musterbögen für die Gefährdungsbeurteilung gibt es bei der gesetzlichen Unfallversicherung.
„Falls ein Mitarbeiter über zu hohe psychische Belastungen klagt oder der Vorgesetzte sie feststellt, sollte unbedingt und rasch ein Gespräch zwischen den beiden stattfinden“, rät der Professor. Besteht der Zeitdruck permanent oder saisonal? Lässt sich das Problem durch eine Änderung der Arbeitsorganisation lösen, etwa flexiblere Arbeitszeiten? „Ganz wichtig ist eine stille Stunde, in der Kollegen das Telefon übernehmen und man ungestört eine wichtige Aufgabe in weniger Zeit erledigen kann“, sagt Windemuth. Falls ein Vorgesetzter das Problem nicht lösen kann, finde er bei der Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse Beratung: „Dem Vorgesetzten muss unbedingt klar sein, dass er einen Mitarbeiter nicht psychisch beurteilen darf.“Es gehe hier nur um die Beurteilung der Arbeitsbedingungen.
Um psychische Erkrankungen von Mitarbeitern schneller zu erkennen, veranstaltet die AOK Bayern in diesem Herbst ein neues Onlineseminar. „Damit wollen wir Führungskräfte für das Thema sensibilisieren“, sagt Werner Winter, Fachbereichsleiter Arbeitswelt der AOK Bayern. In dieser Funktion koordiniert er die betrieblichen Gesundheitsmanagement-Aktivitäten der Krankenkasse in Bayern. Sie berät Unternehmen, um psychischen Belastungen vorzubeugen. In einem aktuellen Projekt ging es um eine ambulante Pflegeeinrichtung in ländlichem Gebiet. Die Beschäftigten, überwiegend Frauen, sind auf dem Weg zu den Pflegebedürftigen oft abends auf einsamen Landstraßen unterwegs, was psychisch belastend für sie ist. „Wir moderierten einen Gesundheitszirkel, in dem die Idee geboren wurde, dass die Frauen im Pflegeheim Bescheid geben, wenn sie zurück sind.“Wenn sie sich nicht meldet, tritt ein Notfallplan in Kraft: Der letzte Patient wird angerufen und es wird nach der Pflegekraft geforscht.
In einem anderen Projekt stellte die Krankenkasse bei einer Betriebsbesichtigung eines Schreibstifteherstellers eine psychische Belastung durch monotone Arbeit fest: Die Mitarbeiterin kontrollierte mit den Augen Tausende Stifte pro Tag, ob diese richtig bedruckt waren. Schlecht bedruckte sortierte sie als zweite Wahl aus. Acht Stunden pro Tag, jahrelang. „Im Gespräch mit dem Vorgesetzten haben wir vorgeschlagen, deren Aufgabe durch andere Arbeitsinhalte anzureichern“, sagt Winter. Jetzt wechseln sich mehrere Mitarbeiterinnen alle zwei Stunden in ihrer Tätigkeit ab. Gewinner gibt es gleich drei, denn die Firma hat nun flexiblere Mitarbeiter für unterschiedliche Aufgaben, die Beschäftige keinen monotonen Job mehr und die Krankenkasse ein gesundes Mitglied.
Workshops für Führungskräfte
Die AOK berät bundesweit Unternehmen in der Arbeitsorganisation, bietet Workshops für Führungskräfte an und Kurse zur Stressbewältigung oder für die Fitness. „Wer körperlich gut in Form ist, kann daraus psychische Kraft schöpfen“, sagt Winter. Psychische Belastungen sieht er aber nicht nur negativ. „Wir brauchen sie, um uns weiterzuentwickeln.“Ähnlich wie körperliche Belastungen notwendig sind, weil sonst Muskeln verkümmern.
Eine besondere Rolle beim Schutz vor psychischen Erkrankungen ihrer Mitarbeiter kommt Führungskräften zu. Sie entscheiden, wer mit welchen Aufgaben betraut wird. Eine psychische Belastung kann entstehen, wenn Anforderungen an eine Aufgabe nicht zur Qualifikation des Mitarbeiters passen. Winter rät den Vorgesetzten dazu, „mit offenen Augen durch den Betrieb zu gehen, um Belastungen zu erkennen“. Und ein Betriebsklima zu schaffen, in dem eine offene Ansprache von Problemen möglich ist. Das ist im Hinblick auf mögliche psychische Erkrankungen die beste Prävention.