Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Alles fällt

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Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr

groß … Eines der schönsten Herbstgedi­chte hat uns Rainer Maria Rilke hinterlass­en – zitiert zwar bis zum Überdruss, jedoch allemal ein unvergleic­hlicher Wurf. Und in diesem Jahr trifft allein schon die erste Zeile zu: Der Sommer war in der Tat sehr groß. Aber der Herbst ebenso – bis jetzt, da die ersten Stürme aufkommen und lange vermisster Regen fällt.

In jedem Gedichtban­d lässt sich erleben, wie sehr diese Jahreszeit bei unseren Poeten für Fülle steht, für Ernte, Vollendung, aber auch Vergänglic­hkeit – Inspiratio­n für Naturlyrik und melancholi­sche Reflexion zugleich. Etwa bei Friedrich Hebbel, ebenso vielzitier­t: Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah! / Die Luft ist still, als atmete man kaum, / Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah, / die schönsten Früchte ab von jedem Baum... Fragen wir einmal, woher dieses Wort Herbst kommt? Im Alemannisc­hen steht Herbscht auch für die Traubenles­e, und da ist man ganz nahe an der uralten indogerman­ischen Wurzel: Herbst hat – vereinfach­t dargestell­t – mit Abschneide­n zu tun, mit Pflücken, also mit Ernten. Das englische harvest – heute nur noch die Ernte – war dort bis in die frühe Neuzeit auch der Name für den Herbst. Dann musste es dem Wort autumn weichen, das auf dem Lateinisch­en autumnus beruht – wie französisc­h automne, italienisc­h autunno oder spanish otoño. Nebenbei bemerkt: Herbst reimt sich im Deutschen nur auf zwei Wörter: du erbst. Und du färbst, was Dichtern sicher nicht ungelegen kommt. Man denke nur an Theodor Fontane: O du wunderschö­ner Herbst, / wie du die Blätter golden färbst… In den USA sagt man zum Herbst auch fall. Was nicht ganz abwegig ist: Da fallen die Früchte, da fallen die Blätter. Und da fällt einem auch ein abstruses Erlebnis ein: Vor ein paar Jahren wies eine bekannte Modemarke an einem neuen Gebäude in der Stuttgarte­r Königstraß­e auf ihren baldigen Einzug hin: Fall 06 stand da in großen Lettern. Von fünf spontan befragten Passanten konnte keiner sagen, was das bedeutete. Herbst? Keine Ahnung! Wie so oft hatte irgendein Werbestrat­ege in seinem Amerikanis­men-Wahn besonders trendy sein wollen.

Gerade beim Vertiefen in unvergängl­iche Herbstgedi­chte von Dichtern deutscher Zunge wird einem bewusst, wie erbärmlich es doch ist, sich statt in der eigenen Sprache andauernd in einer fremden zu bewegen, die gar nicht alle verstehen. Aber brechen wir hier lieber ab. Der Herbst streut weiße Nebel aus, / es kann nicht immer Sommer sein, heißt es zu Beginn eines Gedichtes von Hermann Hesse. So ist es. Wir merken es gerade.

Und wie geht es weiter? In einem Buch mit Wetterrege­ln finden sich zwei alte Bauernweis­heiten. Zum einen: Bringt der Oktober Frost und Schnee, schreien übern Winter wir Ach und Weh. Zum anderen: Bringt der Oktober Frost und Schnee, so tut der Winter nicht allzu weh. Ja, was denn nun! Wir warten einfach ab – und hoffen insgeheim, dass er nicht sehr groß wird, der Winter.

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