Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
„Historische Verantwortung“statt Schuldempfinden
Wangener Constantin Ganß berichtet von Israel und seiner Archivarbeit in der größten NS-Gedenkstätte
WANGEN - Etwa zwei Monate ist es her, dass der 19-jährige Constantin Ganß aus dem Flugzeug steigt und nach einem Jahr Aufenthalt in Israel wieder deutschen Boden betritt. Zwölf Monate voller Eindrücke und Erfahrungen in dem Staat, der dieses Jahr 70 Jahre Bestehen feiert, liegen zu diesem Zeitpunkt hinter ihm.
Angefangen hatte für den Wangener alles 2016 mit einem Urlaub in Polen mit Besuchen unter anderem im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz und im früheren Ghetto Krakau. „Das waren damals so viele Eindrücke in so kurzer Zeit und das Ganze hat mich so weit verfolgt, dass ich mich gefragt habe, wie ich mich dem Thema ,Deutsche Geschichte im Zweiten Weltkrieg’ widmen kann“, erzählt er jüngst im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
Daraus entwickelte sich die Idee, über eine Organisation nach dem Abitur ein Jahr in Israel zu verbringen, davon ein Großteil in Yad Vashem, der größten Gedenkstätte nationalsozialistischer Judenvernichtung der Welt.
Natürlich denke man bei Israel heute direkt an das Spannungsfeld mit den umliegenden Ländern und damit verbundene Gefahren, sagt der 19-Jährige. „Es ist tatsächlich fast normal, dass man in einer Kneipe sitzt und einen Aufpasser mit Maschinengewehr sieht. Aber der Eindruck über die Medien von Israel täuscht, man fühlt sich hier nicht weniger sicher als in Deutschland.“
Constantin Ganß ging während seiner Zeit in Israel zwei Haupttätigkeiten nach: Zum einen der Betreuung von Überlebenden des Holocausts, zum anderen Archivarbeit in Yad Vashem. „Ohne Unterstützung aus der Heimat mit Patenschaften oder durch die GOL und die Evangelische Kirchengemeinde wäre das nicht möglich gewesen“, sagt er.
Über den Verein „Amcha Deutschland“betreute er circa zehn Stunden pro Woche Holocaustüberlebende und deren teils ebenfalls noch traumatisierte Nachkommen. Mit einer 97-jährigen Überlebenden entwickelte sich eine Art Großmutter-Enkel-Verhältnis, was über den ganzen Auslandsaufenthalt erhalten blieb, berichtet er. Bemerkenswert sei für Ganß vor allem gewesen, dass die Holocaustüberlebenden sich oft riesig gefreut hätten, dass Deutsche kommen und er meist offen und herzlich empfangen wurde. „Manchmal hatte ich das Gefühl, die Leute wollten mir als jungem Deutschen sogar nochmal besondere Eindrücke mitgeben. Aber natürlich weiß man in manchen Fällen nicht wirklich, was man sagen soll. In solchen Momenten verspüre ich eine Art historische Verantwortung was die Aufarbeitung der Geschichte angeht.“
Dieser Aufarbeitung widmete Ganß die meiste Zeit. Über die „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“war er etwa rund 30 Stunden pro Woche in der deutschen Abteilung des Archivs in Yad Vashem mit dem Integrieren von alten Nachkriegsakten aus der NS-Zeit in das digitale Computersystem beschäftigt. „Während des Aufenthalts habe ich um die 14 000 Seiten deutschsprachiges Aktenmaterial gesichtet, die Essenz herausgearbeitet und auf Englisch übersetzt, sodass internationale Forscher darauf zugreifen können.“
Es komme auch heute noch immer wieder vor, dass Israelis beispielsweise auf ihrem Dachboden deutsche Dokumente finden und diese nach Yad Vashem zur Aufarbeitung bringen: „Ein Fall war krass“, sagt Constantin Ganß. „Da kam eine Dame mit einem Stapel alter Akten zu mir, da sie dort immer wieder den Namen ihres Großvaters entdeckte, aber der deutschen Sprache nicht mächtig war. Ich fand in den Akten Stempel vom Konzentrationslager Buchenwald, und mit Hilfe des Archivs haben wir so die Familiengeschichte rekonstruiert. Die Überraschung war, dass der Großvater einen KZ-Aufenthalt überlebt hat.“
Der Großteil der Dokumente, die er durchforstete, bestand aus Nachkriegsakten zu Fällen während der NS-Zeit. Frustrierend war für ihn zum Beispiel, eine 400-Seiten-Akte eines Gerichtsfalls gegen einen Nazi durchzuarbeiten mit dem Wissen, dass ein Richter aus der früheren NSZeit den Angeklagten aufgrund fehlender Beweise am Ende freigelassen hat, berichtet der junge Wangener.
„Allein in der deutschen Abteilung gibt es für die nächsten 200 Jahre Arbeit. Diese Fälle müssen aufgearbeitet werden. Einmal, da Familien ein Anrecht darauf haben zu wissen, was vorgefallen ist. Aber auch, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert und dafür muss man der Ideologie der Nazis auf den Grund gehen“, schildert Constantin Ganß seine Motivation. Und er sieht Bezüge zur heutigen Zeit: „Es ist schon erschreckend, dass man Judenhass heute noch findet.“