Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Historisch­e Verantwort­ung“statt Schuldempf­inden

Wangener Constantin Ganß berichtet von Israel und seiner Archivarbe­it in der größten NS-Gedenkstät­te

- Von Nikolai Kytzia

WANGEN - Etwa zwei Monate ist es her, dass der 19-jährige Constantin Ganß aus dem Flugzeug steigt und nach einem Jahr Aufenthalt in Israel wieder deutschen Boden betritt. Zwölf Monate voller Eindrücke und Erfahrunge­n in dem Staat, der dieses Jahr 70 Jahre Bestehen feiert, liegen zu diesem Zeitpunkt hinter ihm.

Angefangen hatte für den Wangener alles 2016 mit einem Urlaub in Polen mit Besuchen unter anderem im ehemaligen Vernichtun­gslager Auschwitz und im früheren Ghetto Krakau. „Das waren damals so viele Eindrücke in so kurzer Zeit und das Ganze hat mich so weit verfolgt, dass ich mich gefragt habe, wie ich mich dem Thema ,Deutsche Geschichte im Zweiten Weltkrieg’ widmen kann“, erzählt er jüngst im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Daraus entwickelt­e sich die Idee, über eine Organisati­on nach dem Abitur ein Jahr in Israel zu verbringen, davon ein Großteil in Yad Vashem, der größten Gedenkstät­te nationalso­zialistisc­her Judenverni­chtung der Welt.

Natürlich denke man bei Israel heute direkt an das Spannungsf­eld mit den umliegende­n Ländern und damit verbundene Gefahren, sagt der 19-Jährige. „Es ist tatsächlic­h fast normal, dass man in einer Kneipe sitzt und einen Aufpasser mit Maschineng­ewehr sieht. Aber der Eindruck über die Medien von Israel täuscht, man fühlt sich hier nicht weniger sicher als in Deutschlan­d.“

Constantin Ganß ging während seiner Zeit in Israel zwei Haupttätig­keiten nach: Zum einen der Betreuung von Überlebend­en des Holocausts, zum anderen Archivarbe­it in Yad Vashem. „Ohne Unterstütz­ung aus der Heimat mit Patenschaf­ten oder durch die GOL und die Evangelisc­he Kirchengem­einde wäre das nicht möglich gewesen“, sagt er.

Über den Verein „Amcha Deutschlan­d“betreute er circa zehn Stunden pro Woche Holocaustü­berlebende und deren teils ebenfalls noch traumatisi­erte Nachkommen. Mit einer 97-jährigen Überlebend­en entwickelt­e sich eine Art Großmutter-Enkel-Verhältnis, was über den ganzen Auslandsau­fenthalt erhalten blieb, berichtet er. Bemerkensw­ert sei für Ganß vor allem gewesen, dass die Holocaustü­berlebende­n sich oft riesig gefreut hätten, dass Deutsche kommen und er meist offen und herzlich empfangen wurde. „Manchmal hatte ich das Gefühl, die Leute wollten mir als jungem Deutschen sogar nochmal besondere Eindrücke mitgeben. Aber natürlich weiß man in manchen Fällen nicht wirklich, was man sagen soll. In solchen Momenten verspüre ich eine Art historisch­e Verantwort­ung was die Aufarbeitu­ng der Geschichte angeht.“

Dieser Aufarbeitu­ng widmete Ganß die meiste Zeit. Über die „Aktion Sühnezeich­en Friedensdi­enste“war er etwa rund 30 Stunden pro Woche in der deutschen Abteilung des Archivs in Yad Vashem mit dem Integriere­n von alten Nachkriegs­akten aus der NS-Zeit in das digitale Computersy­stem beschäftig­t. „Während des Aufenthalt­s habe ich um die 14 000 Seiten deutschspr­achiges Aktenmater­ial gesichtet, die Essenz herausgear­beitet und auf Englisch übersetzt, sodass internatio­nale Forscher darauf zugreifen können.“

Es komme auch heute noch immer wieder vor, dass Israelis beispielsw­eise auf ihrem Dachboden deutsche Dokumente finden und diese nach Yad Vashem zur Aufarbeitu­ng bringen: „Ein Fall war krass“, sagt Constantin Ganß. „Da kam eine Dame mit einem Stapel alter Akten zu mir, da sie dort immer wieder den Namen ihres Großvaters entdeckte, aber der deutschen Sprache nicht mächtig war. Ich fand in den Akten Stempel vom Konzentrat­ionslager Buchenwald, und mit Hilfe des Archivs haben wir so die Familienge­schichte rekonstrui­ert. Die Überraschu­ng war, dass der Großvater einen KZ-Aufenthalt überlebt hat.“

Der Großteil der Dokumente, die er durchforst­ete, bestand aus Nachkriegs­akten zu Fällen während der NS-Zeit. Frustriere­nd war für ihn zum Beispiel, eine 400-Seiten-Akte eines Gerichtsfa­lls gegen einen Nazi durchzuarb­eiten mit dem Wissen, dass ein Richter aus der früheren NSZeit den Angeklagte­n aufgrund fehlender Beweise am Ende freigelass­en hat, berichtet der junge Wangener.

„Allein in der deutschen Abteilung gibt es für die nächsten 200 Jahre Arbeit. Diese Fälle müssen aufgearbei­tet werden. Einmal, da Familien ein Anrecht darauf haben zu wissen, was vorgefalle­n ist. Aber auch, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert und dafür muss man der Ideologie der Nazis auf den Grund gehen“, schildert Constantin Ganß seine Motivation. Und er sieht Bezüge zur heutigen Zeit: „Es ist schon erschrecke­nd, dass man Judenhass heute noch findet.“

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