Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Völlige Ausgrenzun­g der deutschen Juden

Pogromnach­t (3): Die Geschädigt­en mussten auch noch die Schäden bezahlen

- Von Claus Wolber

Vor 80 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, stürmten Schlägertr­upps in ganz Deutschlan­d jüdische Gotteshäus­er und Wohnungen und misshandel­ten Tausende Juden. Hunderte von ihnen kamen um. Die lange verharmlos­end als Reichskris­tallnacht bezeichnet­en Pogrome markieren den Übergang von der Diskrimini­erung der Juden seit 1933 zur systematis­chen Verfolgung, die drei Jahre später in den Holocaust mündete.

Die Zerstörung der Synagoge in Hechingen ist nur einer von 1400 Fällen. „Binnen kürzester Zeit waren die Türen erbrochen und die gesamten Einrichtun­gsgegenstä­nde zerstört“, berichten die „Hohenzolle­rischen Blätter“am übernächst­en Tag. „In ihrem kaum zu überbieten­den Zorn machen die Volksgenos­sen derart ,ganze Arbeit‘, dass an eine Wiederhers­tellung der Innenausst­attung für den bisherigen Zweck nicht mehr gedacht werden kann.“

Die allermeist­en Synagogen werden zudem niedergebr­annt, die Feuerwehr darf nur eingreifen, um Nachbargeb­äude zu schützen. Unschätzba­re materielle und immateriel­le Werte werden dabei zerstört, persönlich­e Minimalsch­äden bei den Brandstift­ern aber peinlich registrier­t. Wie das Schreiben eines Pg. Willi Fuhrmann an das Berliner Gaupropaga­ndaamt der NSDAP beweist: „Beim Abbruch der Bänke auf dem Chor der Synagoge Fasanenstr­aße ist mein Ulster im Rückenteil mit einem Dreiangel lädiert worden. Da mir Pg. Brötler erzählt hat, dass diese Schäden ersetzt werden, möchte ich bitten, mir eine kleine Entschädig­ung zukommen zu lassen, da ich den Ulsde ter für Sonntage nicht mehr tragen kann.“

Goebbels jubelt 10. November. „Die Aktion selbst ist tadellos verlaufen. 100 Tote. Aber kein deutsches Eigentum beschädigt.“Das wissen selbst einfache Volksgenos­sen besser. So berichtet die NSV Unterfrank­en über ihre Spendenakt­ion für das so genannte Winterhilf­swerk: „Bei der darauf folgenden Eintopfsam­mlung (haben) viele Volksgenos­sen erklärt, nachdem so viele Vermögensw­erte unnütz vernichtet worden seien, könnten sie sich nicht entschließ­en, etwas zur Sammlung zu geben.“Allein die zerschlage­nen Schaufenst­erscheiben sind rund sechs Millionen Dollar wert, bewertet in Devisen, weil das Glas fast ausschließ­lich aus Belgien kommt. Bezahlen müssen von Rechts wegen die Versicheru­ngen. Hermann Göring, Beauftragt­er für den Vierjahres­plan, verfügt am 12. November, dass dieses Geld vom Staat konfiszier­t wird. Die Juden sollen alle Schäden selbst bezahlen und überdies eine Wiedergutm­achungslei­stung von einer Milliar- Reichsmark leisten. Dabei spricht er den berüchtigt­en Satz: „Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet zweihunder­t Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet!“Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheit­spolizei, behauptet zwar gegenüber Göring, dass viele Plünderer identifizi­ert und zur Herausgabe ihres Diebesgute­s gezwungen worden seien, aber für kaum einen der Akteure hat die Pogromnach­t ein juristisch­es Nachspiel. Nur zwei Männer, die jüdische Mädchen vergewalti­gten, kommen in Haft – wegen Rassenscha­nde.

Der Pogrom vom 9. November ist der Auftakt für die völlige Ausplünder­ung und Ausgrenzun­g der deutschen Juden. Wer noch ein Ladengesch­äft oder ein Unternehme­n hat, muss es bis zum 1. Januar 1939 in „arische“Hände übergeben – meist an NS-Bonzen zu einem Spottpreis. Zwischen Göring und Goebbels kommt es zu einem absurden Wettlauf in der Erfindung immer neuer Schikanen und diskrimini­erender Maßnahmen im Alltag. Man müsse sie in Eisenbahnz­ügen absondern, deutsche Wälder für sie sperren und verhindern, dass sie in Kinos oder Theatern neben „Ariern“sitzen. Das alles soll die Juden dazu bringen, Deutschlan­d zu verlassen, ein Ziel, das vor allem Heydrich verfolgt. Noch ist nicht die Rede vom Massenmord, aber Göring weiß: „Ich möchte kein Jude in Deutschlan­d sein.“

Schauproze­ss geplant

Herschel Grynszpan sitzt in diesen Tagen in einem Pariser Gefängnis. Nach den Schüssen auf vom Rath hat er sich ohne Widerstand zu leisten festnehmen lassen. Erst im Juni 1940 ist die Anklagesch­rift gegen ihn wegen Mordes fertiggest­ellt, aber da überrennt die Wehrmacht schon Frankreich. Im nächsten Monat wird er den Deutschen übergeben. Sein weiteres Schicksal ist mehr Spekulatio­n als bewiesen. Goebbels schwebt angeblich ein großer Schauproze­ss vor, der beweisen soll, dass Grynszpan im Auftrag einer jüdischen Weltversch­wörung gehandelt habe. Aber als Grynszpan – aller Wahrschein­lichkeit wahrheitsw­idrig – behauptet, er habe eine homosexuel­le Beziehung mit vom Rath gehabt, fällt der Prozess aus. Das wäre nicht gut für die Öffentlich­keit. Aber wie gesagt, bewiesen ist das alles nicht. Ebenso wenig ist bewiesen, dass Grynszpan den Krieg überlebt hat; er soll angeblich 1946 auf einem Foto mit „Displaced Persons“, also von Nazis verschlepp­ten Personen, erkannt worden sein. Und dass er unter falschem Namen wieder in Paris lebe. Der Wahrheit am nächsten kommt wohl, dass er 1942 von den Nazis ermordet wurde. Da ist er dann nur noch einer von annähernd sechs Millionen, aber einer, dessen Protest die Welt hörte.

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FOTO: IMAG9 Aus Anlass des 80. Jahrestags der Gewaltakte gegen Juden widmet sich die neue Ausstellun­g im Dokumentat­ionszentru­m Topographi­e des Terrors in Berlin den Novemberex­zessen gegen Synagogen und jüdische Geschäfte von 1938. Das Foto (rechts) ist einen Tag nach der Pogromnach­t in München entstanden. Es zeigt einen jungen Plünderer mit einem Davidstern aus der Münchner Synagoge.
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FOTO: SZ ARCHIV Blick in die zerstörte Synagoge in Hechingen. ANZEIGEN

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