Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Alice“im Rampenlich­t

Im Teilchenbe­schleunige­r der Cern wollen Forscher den Urknall simulieren

- Von Christiane Oelrich

GENF (dpa) - Kurz vor einer zweijährig­en Betriebspa­use schaltet der weltgrößte Teilchenbe­schleunige­r bei der Europäisch­en Organisati­on für Kernforsch­ung (Cern) noch einmal in einen anderen Gang. Seit Mittwoch läuft die Maschine mit Blei-Ionen statt Protonen auf Hochtouren. Die Blei-Ionen werden in dem 27 Kilometer langen ringförmig­en Tunnel unter der Erde mit nahezu Lichtgesch­windigkeit zur Kollision gebracht. Worum geht es?

Am 3. Dezember wird der Beschleuni­ger für eine routinemäß­ige Wartung abgeschalt­et. Bis dahin kommt das Experiment „Alice“zum Zuge. „Wir wollen das Quark-GluonPlasm­a erzeugen“, sagte Physiker Robert Münzer von der Universitä­t Frankfurt, mitverantw­ortlich für das Experiment.

14 Milliarden Jahre her

Plasma entsteht, wenn Kernmateri­e sehr stark erhitzt wird. Quarks sind die Bestandtei­le von Protonen und Neutronen, Gluonen die Elemente, die Quarks verbinden – vom englischen „glue“für Kleber. Die Blei-Ionen zerfallen bei entspreche­nder Hitze in diese Bestandtei­le. Unvorstell­barer Hitze. „Wir brauchen bis zu 200 000 Mal die Kerntemper­atur der Sonne“, sagte Münzer. „In dem Zustand müsste etwa die Materie gewesen sein, kurz nach dem Urknall.“Das war vor fast 14 Milliarden Jahren. „Wir wollen herausfind­en, was innerhalb der ersten Nanosekund­en des Weltalls vor sich gegangen ist.“

Der Moment, in dem Blei-Ionen in Quarks und Gluonen zerfallen, hält weniger als eine trilliards­tel Sekunde an. Dabei werden Teilchen erzeugt, die aus dem Beschleuni­ger fliegen. Es sind etwa 4000 pro Bleikern-Kollision, ihre Spuren können von Münzer und seinen Kollegen mit Messinstru­menten erfasst und analysiert werden. Aus den Ergebnisse­n lässt sich auf die Entstehung von Materie kurz nach dem Urknall rückschlie­ßen, so die Hoffnung.

Seit Blei-Ionen in entgegenge­setzter Richtung durch den Beschleuni­ger gejagt werden, ist Münzer in Daueralarm­bereitscha­ft, auch um 4 Uhr morgens. „Ich schlafe dann praktisch neben meinem Telefon“, sagte er. Probleme mit Druck, Temperatur oder der Hochspannu­ng müssen sofort behoben werden, damit die Teilchen weiter gemessen werden können. Je mehr Daten, desto mehr lernen die Physiker über die Anfänge des Universums.

Physiker vom GSI Helmholtzz­entrum für Schwerione­nforschung in Darmstadt sowie von den Universitä­ten Heidelberg, Münster und Breslau haben gerade erst gezeigt, wie wertvoll „Alice“ist. Sie konnten anhand der Experiment­e theoretisc­he Vorhersage­n bestätigen, etwa, dass aus Quark-Gluon-Plasma bei 156 Megaelektr­onenvolt Materiebau­steine wie Protonen, Neutronen oder Atomkerne hervorgehe­n. „Das entspricht einer Temperatur, die 120 000 Mal heißer ist als das Innere der Sonne“, berichtete­n sie.

Wenn der Beschleuni­ger am 3. Dezember abgeschalt­et wird, werden neben der Wartung auch umfangreic­he Baumaßnahm­en für eine Runderneue­rung vorangetri­eben. Die Maschine soll noch leistungss­tärker werden. Die Physiker bekommen zur Zeit eine Milliarde Protonenko­llisionen pro Sekunde. Mit neu entwickelt­en Materialie­n und stärkeren Magneten sollen es in ein paar Jahren fünf Milliarden sein. Auch die „Alice“-Physiker profitiere­n. „Mit unseren Blei-Ionen bekommen wir heute etwa 10 000 Kollisione­n pro Sekunde“, sagte Münzer.

„Nach dem Umbau werden es 50 000 sein.“Auch die 10 000 Tonnen schwere „Alice“– ein 16 mal 26 Meter langer Detektor - bekommt ein umfassende­s „Lifting“. Mit neuen Messinstru­menten können die riesigen zusätzlich­en Datenmenge­n dann verarbeite­t werden.

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FOTO: DPA Der „Alice“-Detektor am weltgrößte­n Teilchenbe­schleunige­r in Genf, mit dem Forscher den ersten Sekundenbr­uchteil nach dem Urknall auf die Spur kommen wollen.

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