Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Wie ein Wangener den „Kettenmenschen“hilft
Rüdiger Schneider erzählt von seiner Reise nach Westafrika und einem Hilfsprojekt für psychisch Kranke
WANGEN - Menschliche Wracks. Knochen, nur mit einer dünnen Hautschicht überzogen. „Gestalten“, die verlernt haben, zwischen Essbarem und Exkrementen zu unterscheiden. Nicht nur das: Sie haben zum Teil verlernt zu gehen, zu sprechen, zu sehen: Zu Abertausenden werden in Westafrika Schizophrene, Epileptiker, Manisch-Depressive an Bäumen oder in dunklen Hütten sprichwörtlich angekettet – nicht selten von eigenen Familienmitgliedern. Rüdiger Schneider, seit zehn Jahren Leiter des sozialpsychiatrischen Wohnheims der Bruderhaus Diakonie in Wangen, flog im Juli für zwölf Tage in die Elfenbeinküste und nach Burkina Faso. Vor Ort besuchte er Zentren, in denen solche Menschen aufgefangen und betreut werden, nachdem sie befreit wurden. Während der Tour zusammen mit Vertretern der Nichtregierungsorganisation Freundeskreis St. Camille aus Reutlingen, die sich für jene Menschen einsetzt, hat Schneider knapp 3000 Kilometer auf schlaglochübersäten Straßen zurückgelegt. SZ-Mitarbeiter Nikolai Kytzia sprach mit Schneider über seinen Aufenthalt, seine Tätigkeit dort und was für die Zukunft geplant ist.
Herr Schneider, als Wangener in Afrika – wie kommt es dazu? Schneider:
Seit längerem stellte ich mir die Frage, wo ich mich nebenbei noch ein bisschen engagieren kann. Der Verein „Freundeskreis St. Camille“sucht seit Jahren nach Leuten, die sich für solch’ ein Projekt interessieren. Durch den Kontakt des Vereins mit der Hauptstelle der Bruderhaus Diakonie in Reutlingen habe ich davon erfahren, und ab der ersten EMail kam ich schon nicht mehr aus der Sache heraus. Das war Anfang Juni. Von da an ging es mit Unterstützung meines Arbeitgebers, der mich sowohl freistellte, als auch für die Kosten aufkam, Schlag auf Schlag: Anfang Juli sollte es schon losgehen, was natürlich Spontanität erforderte, auch von Seiten meiner Mitarbeiter. Ich stellte schnell fest, dass dieses Projekt wie die Faust aufs Auge zu mir passte: Gesucht waren erfahrene Menschen in den Bereichen Ergotherapie, Sozial- und Pflegedienst – auch im Umgang mit schwer psychisch Kranken. Ich brachte die richtige Fachkompetenz für das „Projekt Kettenmenschen“mit und spreche Französisch, was auch eine der Voraussetzungen war.
Warum werden Menschen in Afrika wie Hunde angekettet?
Dieses schreckliche Verfahren ist in ganz Westafrika üblich. Menschen mit psychischer Erkrankung werden dort einfach in Ketten gelegt, da man mit dieser Art von Erkrankungen nicht umzugehen weiß. Die Bewohner dort sehen in schizophrenen Menschen von Dämonen Besessene, und schon bei Berührungen würden die Dämonen überspringen. Deswegen bleibt vielen nur übrig, psychisch Kranke teils sogar in dunklen Räumen oder an Bäumen außerhalb der Dörfer anzuketten. Wichtig ist zu verstehen, dass dahinter meist keine böse Absicht steckt, sondern Unwissenheit und Angst. Dabei kommt es zu Horrorszenarien: Brüder ketten ihre Brüder, Mütter ihre Töchter, Töchter ihre Mütter an. Durch die vielen Kriege gibt es zehntausende traumatisierte und psychisch gestörte Menschen in diesen Ländern, von denen viele schon jahrelang, teils Jahrzehnte „an der Kette hängen“. Dazu kommt, dass es für uns in Deutschland schon nicht immer einfach ist, solche Leute aufzufangen, aber dort gibt es nun einmal überhaupt kein funktionierendes System. Berufsbilder wie Sozialpädagogen, Ergotherapeuten oder Heilerziehungspfleger sind unbekannt.
Wie leistet man in solchen Fällen Hilfe?
Es geht um Aufklärung und den richtigen Umgang mit den Menschen und der Situation dort. Wenn man von einem Kettenmenschen hört, wird dieser befreit und man bringt ihn ins nächstgelegene Zentrum. Dort wird er von Grund auf aufge- päppelt, zehn Zentimeter lange Zehennägel werden geschnitten oder Dreck von 15 Jahren von der Haut geschrubbt. Wenn man jahrelang mit einem Meter Bewegungsraum an einer Kette verbracht hat, muss man neu stehen und gehen lernen. Wer jahrelang im Dunkeln ausharrte, muss aufs Neue lernen, seine Augen zu benutzen. Und wer sich jahrelang mit niemandem unterhalten konnte, muss wieder lernen, seine Stimme zu benutzen und zu sprechen. Danach setzt recht früh die medizinische Versorgung mit Psychopharmaka ein, um die Patienten zu stabilisieren. Hier ein funktionierendes System aufzubauen ist das Ziel, jedoch ist der Prozess gerade erst im Entstehen.
Was ist Ihr Ziel?
Unser Ziel ist, tiefer anzusetzen, um wirklich substanzielle Hilfe zu leisten, also die Leute von Grund auf aufzuklären, Seminare zu psychischen Krankheiten anzubieten, eine pädagogische Schiene zu installieren. Wichtig ist dem Verein auch, den afrikanischen Staaten nicht europäische Standards aufzuzwingen, denn das wird nicht funktionieren. Wir überprüfen die Gegebenheiten und ermitteln, welche Hilfe von den Menschen dort gewünscht wird, und auf Basis dessen wird individuell gehandelt.
Welche Fortschritte macht das „Projekt Kettenmenschen“?
Allein Grégoire Ahongbonon, ein ehemaliger Taxifahrer und Initiator der Befreiung von Kettenmenschen, hat seit 1991 um die 15 000 Menschen befreit. Wenn es gut läuft, sind manche Ex-Kettenmenschen durch Medikamente soweit stabilisiert, dass sie wieder in ihre Dörfer integriert werden können. Es gibt Fälle, wo die „Geheilten“freudig empfangen wurden und nun wieder bei ihren Familien leben und kleine Aufgaben wie Kochen oder Landarbeiten übernehmen. Andere wollen lieber in den Zentren bleiben und bringen sich dort ein. Aufbau und Ausbau dieser Zentren für psychisch Erkrankte ist weiterer wichtiger Bestandteil der Mission, denn oft fehlt es dort an Personal und Kompetenz. Durch gezielte Aufklärungsarbeit wollen wir jedoch versuchen, ob es möglich ist, eine Gesellschaft so weit aufzuklären, dass es gar nicht mehr dazu kommt, dass psychisch Kranke an der Kette landen. Das Schwierige daran ist: Gerade die Elfenbeinküste ist noch mit so vielen anderen politischen Dingen beschäftigt und auch andere Staaten haben so viele andere tiefgreifende Probleme, dass es schwierig wird, die psychisch Kranken in den Fokus zu rücken.
Was nehmen Sie für sich aus dem Afrikaaufenthalt mit?
Große Faszination. Ich habe einerseits unglaublich beeindruckende Menschen kennengelernt, die sich in Gefahr begeben, etwa bei der Befreiung von angeketteten Menschen, und welche, die ohne privaten Vorteil unglaublich engagiert sind. Auf der anderen Seite habe ich Menschen kennengelernt, die unvorstellbare Leidenswege hinter sich brachten, überlebten und die einen trotz allem mit unvorstellbarer Herzlichkeit empfangen haben, mit breitem, ansteckendem Lächeln, das sie nicht verloren oder vergessen haben. Es waren einschneidende Tage, denn natürlich kann man seine Gefühle nicht ausschalten, wenn man Leute „frisch vom Baum“antrifft. Ich versuche jedoch, lieber konkret Veränderung zu bewirken, als in Mitleid zu versinken.
Wie geht es für Sie weiter?
Ich habe gemerkt, dass das Projekt zu mir passt wie der Deckel auf den Topf und werde mich vermutlich länger damit auseinandersetzen. Ich kann gar nicht anders. Ich könnte jetzt nicht sagen: „Das mach ich nicht.“Das Ziel bei der Reise im Juli war, mir einen Überblick zu verschaffen. Auf dieser Basis wollen wir im Freundeskreis die nächsten Schritte, die sinnvoll sind, anstreben. Geplant ist, dass ich etwa zweimal im Jahr für jeweils drei bis vier Wochen nach Afrika fliege, um einerseits Fortbildungen zu geben, was den Umgang mit psychisch Kranken angeht. Andererseits will ich die Situation dort begleiten, also die Entwicklung in den wachsenden Zentren beobachten. Aber mir ist es auch ein großes Anliegen, die Umstände in Westafrika publik zu machen, auch hier im Allgäuer Ländle. Mir ist es auch wichtig, so ehrlich will ich sein, Spenden zu akquirieren für den Verein, denn es ist nicht so leicht, Spenden für eine Region wie Westafrika zu finden, die uns als Urlaubsziel weniger interessiert. Wobei ich abgesehen davon gerade von der fantastischen Küstenregion nur schwärmen kann.