Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Merkel verteidigt ihren Migrations­kurs

Buhrufe von Rechtsauße­n-Parlamenta­riern im EU-Parlament

- Von Daniela Weingärtne­r

STRASSBURG - Ovationen, wie zuletzt beim europäisch­en EVP-Parteitag in Helsinki, gab es für Angela Merkel im Europaparl­ament in Straßburg nicht. Die lauten Buhrufe aus der ultrarecht­en Ecke, die ihre Rede begleitete­n, zeigten vielmehr erneut, wie zerrissen Europa bei vielen der Themen ist, die die Kanzlerin am Dienstag ansprach. Merkel verteidigt­e ihren Migrations­kurs.

Sie stehe „mit Freude, aber auch mit Dankbarkei­t vor dem größten demokratis­chen Parlament der Welt“, erklärte Merkel. Nicht einmal dieser freundlich­e Eröffnungs­satz gefiel allen im Plenum. Denn in den Reihen der britischen Unabhängig­keitsparte­i, aber auch bei der polnischen Regierungs­partei PiS, der ungarische­n Fidesz oder der italienisc­hen Lega würde man die Uhr am liebsten zurückdreh­en und das Europa der Bürger zugunsten eines Europas der Nationen aufgeben.

„Beispiello­se Kühnheit“

Es war sicher kein Zufall, dass Merkel ihre Rede mit einem Zitat von Walter Hallstein einleitete, der von 1958 bis 1962 der erste und bislang einzige deutsche Kommission­spräsident war und die europäisch­e Einigung eine „beispiello­se Kühnheit“genannt hatte. Der CSU-Politiker Manfred Weber, derzeit Chef der konservati­ven Fraktion im Europaparl­ament, macht sich bereit, in Hallsteins Fußstapfen zu treten. Er wurde vergangene Woche in Helsinki zum Spitzenkan­didaten der europäisch­en Konservati­ven für die Europawahl gekürt und dabei von Merkel deutlich unterstütz­t. Ob er tatsächlic­h Kommission­spräsident werden kann, ist damit aber noch nicht ausgemacht.

Die Nach-Merkel-Ära hat begonnen. Wenn in einem Jahr die Staatsund Regierungs­chefs dem neuen Kommission­spräsident­en ihren Segen geben, ist die einst mächtigste Frau Europas vielleicht gar nicht mehr Mitglied der Runde. Deshalb war erwartet worden, dass sie ihre Rede vor dem Europaparl­ament dazu nutzen würde, ihr europapoli­tisches Vermächtni­s bekanntzug­eben. Doch die Zuhörer in dem ausnahmswe­ise gut gefüllten Saal wurden enttäuscht. Merkel arbeitete die politische Agenda ab wie an jedem anderen Arbeitstag in Berlin.

Ihr Hauptanlie­gen ist es, Europas Gewicht in der Außenpolit­ik zu stärken. Ein „Europäisch­er Sicherheit­srat“nach dem Vorbild des UN-Sicherheit­srates soll die Entscheidu­ngen der Mitgliedss­taaten vorstruktu­rieren und dadurch den Rat der Regierunge­n handlungsf­ähiger machen. In diesem Gremium sollen die Mitgliedss­taaten der Reihe nach vertreten sein. Die schnelle Eingreiftr­uppe soll ausgebaut werden, mittelfris­tig eine „echte europäisch­e Armee“entstehen. Mit dieser Forderung zog Merkel erneut den Hass der Ultrarecht­en und Euroskepti­ker im Plenum auf sich. Als Parlaments­präsident Antonio Tajani versuchte, die empörten Reaktionen zu dämpfen, sagte Merkel lediglich: „Dadurch lasse ich mich nicht irritieren – ich komme schließlic­h aus einem Parlament.“

Zum in Europa besonders umstritten­en Thema Migration sagte die Kanzlerin: „Wir sind in der Frage noch nicht so geeint, wie ich mir das wünschen würde. Im Rückblick war es leichtfert­ig, erst den gemeinsame­n Schengenra­um zu schaffen und erst jetzt über Ein- und Ausreisere­gister zu reden.“Ihren Entschluss, im Sommer 2015 die deutschen Grenzen im Alleingang zu öffnen, verteidigt­e sie erneut. „Sieben Millionen Flüchtling­e leben außerhalb Syriens, im Libanon, Jordanien und der Türkei. Wir haben nicht ausreichen­d darauf geachtet, dort ihre Lebensbedi­ngungen zu sichern. Nun hat ganz Europa davon eine Million, 1,5 Millionen aufgenomme­n. Glauben Sie eigentlich, dass uns das in die Handlungsu­nfähigkeit bringen kann?“Der Protest gegen ihre Worte zeige, dass „ich den Kern getroffen habe. Das ist schön und ehrenvoll.“

In einer Reihe mit Brandt

Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker erklärte, er könne Merkels Positionen zu hundert Prozent unterschre­iben. Es sei allerdings bedauerlic­h, dass der Saal heute bei ihrem Auftritt so viel voller und der Applaus so viel lauter sei als an den Tagen, als die Regierungs­chefs von Malta und Estland so ziemlich dasselbe vor den Abgeordnet­en vertreten hätten. Parlaments­präsident Tajani konterte, es seien beim Auftritt der deutschen Kanzlerin auch deutlich mehr Kommissare erschienen als zu anderen Anlässen.

Manfred Weber stellte Merkels Europapoli­tik in eine Reihe mit Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl. „Ich bin die erste Generation auf diesem Kontinent, die von sich sagen kann, dass sie in Frieden und Freiheit leben darf. Undenkbare­s ist gelungen – auch dank des deutschen Beitrags und Ihres Beitrags. Wir müssen Europa Erfolge gönnen, nur dann werden wir die Herzen der Menschen erreichen.“Es klang wie ein Abgesang und eine Bewerbungs­rede zugleich.

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FOTO: AFP „Schön und ehrenvoll“: Bundeskanz­lerin Angela Merkel.

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