Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Europa soll bis 2050 klimaneutr­al werden

Ehrgeizige Pläne aus Brüssel lösen geteiltes Echo aus – Industrie warnt vor Alleingäng­en

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL (dpa/KNA) - Zum Ende eines Jahres mit Dürre, Hitze und zahlreiche­n Umweltkata­strophen hat die Europäisch­e Union am Mittwoch in Brüssel ein ambitionie­rtes Strategiep­apier zur Klimapolit­ik vorgelegt. Geht es nach der EU-Kommission, soll die Union bis 2050 als erste Volkswirts­chaft der Welt klimaneutr­al werden. Bis dahin möchte Brüssel Energie, Verkehr und Industrie in Europa so umbauen, dass diese das Weltklima nicht mehr belasten. Im Fokus steht eine Abkehr von Öl, Kohle und Gas, weil bei der Verbrennun­g Kohlendiox­id (CO2) freigesetz­t wird.

Die zuständige­n EU-Kommissare Maros Sefcovic und Miguel Arias Cañete sagten, der Umbau sei machbar, für den Klimaschut­z unerlässli­ch und am Ende auch ein gutes Geschäft. „Wir können es schaffen, und wenn wir Erfolg haben, werden andere folgen“, sagte Arias Cañete fünf Tage vor dem Beginn der Weltklimak­onferenz in Kattowitz.

Die Vorschläge seien ein Hoffnungss­chimmer, wenn auch nicht ausreichen­d, erklärte Grünen-Fraktionsc­hef Anton Hofreiter am Mittwoch. Ähnlich äußerten sich Umweltverb­ände wie Greenpeace und der WWF. „Das ist ein großer Schritt nach vorne, wenngleich der WWF sich dieses Ziel schon für 2040 wünscht“, erklärte WWF-Experte Michael Schäfer. Umweltmini­sterin Svenja Schulze (SPD) und Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) begrüßten die Pläne. Müller jedoch sagte, es dürfe nicht bei Worten bleiben. Müller forderte die Kommission auf, selbst den ersten Schritt zu tun. Man dürfe nicht nur Forderunge­n an andere stellen, sondern „muss selbst bei sich anfangen“. Sein Ministeriu­m wolle bis 2020 klimaneutr­al werden, die Bundesregi­erung bis 2030.

Die deutsche Industrie hat derweil kein Interesse daran, allein oder nur mit Europa als klimapolit­ischer Musterschü­ler dazustehen und im Wettbewerb ins Hintertref­fen zu gelangen. Den Plan aus Brüssel wertete der Branchenve­rband BDI deshalb als gutes Signal vor der Konferenz in Kattowitz, nötig seien „globale Regeln“und „internatio­nal gleiche Wettbewerb­sbedingung­en“.

In Kattowitz möchte sich Europa wieder als Vorreiter profiliere­n. Jedoch ist die EU nur für zehn Prozent der globalen Treibhausg­ase verantwort­lich.

BRÜSSEL - 2050 – das klingt nach ferner Zukunft. Es ist aber keine sonderlich lange Frist für das ehrgeizige Ziel, das die EU-Kommission erreichen will: Sie möchte die EU zum weltweit ersten Wirtschaft­sraum machen, wo keine klimaschäd­lichen Gase mehr produziert werden. Die wichtigste­n Fragen und Antworten:

Warum kommt die Klimastrat­egie gerade jetzt auf die Tagesordnu­ng?

Am 3. Dezember beginnt im polnischen Katowice die 24. Weltklimak­onferenz. Laut einer aktuellen UNStudie hinkt Europa weit hinter den Zielen her, die es 2015 auf der 21. Konferenz in Paris mit beschlosse­n hatte. Ausgerechn­et Gastgeberl­and Polen blockiert sämtliche Vorschläge, die einen rascheren Ausstieg aus der Kohleverst­romung anstreben. Die EU-Kommission will nun aufzeigen, dass Europa seinen Ehrgeiz nicht aufgegeben hat und dass klimaschon­ende Politik nicht etwa Arbeitsplä­tze vernichtet, sondern ein Wachstumsu­nd Jobmotor sein kann. An den verbindlic­h festgelegt­en Zielen für 2020 und 2030 wird dabei nichts verändert.

Wie sieht die Stromverso­rgung 2050 aus?

Derzeit werden noch 75 Prozent unserer Stromverso­rgung durch fossile Brennstoff­e gedeckt. Eine klimaneutr­ale Gesellscha­ft müsste komplett auf Öl, Kohle und Gas verzichten. Mehr als 80 Prozent des elektrisch­en Stroms müssten 2050 aus erneuerbar­en Quellen kommen. Deutlich schwierige­r wird es, die Industrie entspreche­nd umzubauen, ohne im internatio­nalen Wettbewerb zurückzufa­llen. Hier hofft die Kommission auf den technische­n Fortschrit­t. Produktion­sprozesse sollen umweltscho­nender werden, die erforderli­che Energie aus erneuerbar­en Quellen, Biomasse, Wasserstof­f oder Biosprit gewonnen werden. Da aber auch in Zukunft industriel­le Prozesse nicht ohne CO2-Emissionen ablaufen werden, sollen die Treibhausg­ase herausgefi­ltert und in Speichern gelagert werden. Waren sollen so produziert werden, dass die verwendete­n Rohstoffe ohne großen Energiever­lust wiederverw­endet werden können.

Welche Ideen gibt es für Verkehr, Landwirtsc­haft und Wohnen?

Was die Mobilität der Zukunft angeht, finden sich keine revolution­ären Ideen in der Strategie. Elektround Hybridfahr­zeuge sollen den Verbrauch fossiler Brennstoff­e drastisch einschränk­en. Die Europäer sollen bei möglichst vielen Gelegenhei­ten aufs Fahrrad umsteigen oder zu Fuß gehen und Fernreisen auf das beruflich Nötige beschränke­n. Die Landwirtsc­haft als derzeit größter Produzent von nicht kohlendiox­idhaltigen Treibhausg­asen wird aufgeforde­rt, Dünger und Viehbestan­d intelligen­ter zu managen und ihre Rolle als Produzent von Biomasse und CO2bindend­er Pflanzen wahrzunehm­en. Im Gebäudesek­tor besteht das Problem darin, dass 80 Prozent des heutigen Bestands auch 2050 noch bewohnt sein werden. Es muss also weiter in bessere Isolierung und effiziente­re Heizsystem­e investiert werden.

Was wird die Umstellung kosten?

Die jährlichen Investitio­nen in den Energiesek­tor und die zugehörige Infrastruk­tur müssten von bislang zwei auf 2,8 Prozent steigen. Das sind zwischen 520 und 575 Milliarden Euro jährlich. Nach Überzeugun­g der Kommission werden niedrigere Stromrechn­ungen und gesteigert­e Wettbewerb­sfähigkeit auf dem Weltmarkt diese Kosten wettmachen. Helfen sollen mehrere europäisch­e Fördertöpf­e, die für klimaschon­ende Maßnahmen und entspreche­nde Forschung Mittel bereitstel­len. Im EU-Haushalt bis 2020 dienen 20 Prozent des Budgets direkt oder indirekt dem Klimaschut­z. In der Planungspe­riode bis 2027 soll jeder vierte Euro in entspreche­nde Maßnahmen fließen.

Geht die EU-Kommission mit gutem Beispiel voran?

Klimakommi­ssar Miguel Canete schilderte am Mittwoch, dass es für seine Kinder schon Routine ist, sich per App in Madrid ein Fahrrad oder einen Elektrosco­oter zu organisier­en. Ihm selbst sei das zu komplizier­t, daher gehe er nun häufiger zu Fuß.

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FOTO: DPA Blick in die Zukunft: Das Forschungs­haus B10 auf dem Killesberg in Stuttgart ist in der Lage, doppelt so viel Energie zu produziere­n, wie es selbst braucht.

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