Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Edeltraud lernt schreiben – im Rentenalte­r

Eine Million Menschen in Baden-Württember­g sind funktional­e Analphabet­en – Hilfsangeb­ot in Ravensburg

- Von Lena Müssigmann

RAVENSBURG - Was war das für eine Überraschu­ng für Edeltraud (Name von der Redaktion geändert): Sie kann schreiben. Wörter, inzwischen ganze Sätze. Im Ravensburg­er Alphabetis­ierungskur­s übt sie mit Bleistift auf vorgedruck­ten Linien. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das in meinem Leben noch mal lern“, sagt sie. Jahrzehnte lang hatte sie geglaubt, was man ihr in der Schule vermittelt hatte: Dass sie zu dumm fürs Schreiben und Lesen sei.

Edeltraud ist Rentnerin. Ihr Leben lang hat sie Ausreden erfunden, um ihr Problem zu verstecken, wie sie erzählt. Wenn sie einen Behördente­rmin hatte, verband sie sich die Hand, gab vor, sie habe sich das Gelenk verstaucht. Schreiben ließ sie dann die anderen. Ihren Einkaufsze­ttel hatte sie immer im Kopf. Selbst ihr Sohn habe keine Ahnung, dass seine Mutter gerade erst Schreiben lernt.

Laut Studien gibt es im Südwesten eine Million sogenannte funktional­e Analphabet­en. Lese- und Schreibken­ntnisse funktional­er Analphabet­en sind niedriger als das Niveau, das im Alltag als selbstvers­tändlich voraussetz­t wird, wie es in einer Studie der Universitä­t Hamburg aus dem Jahr 2011 heißt.

Ausbildung machte sie nie

Aber wie kann das sein, bei Menschen, die in Deutschlan­d aufgewachs­en sind? „Ich bin so durchgerut­scht durch die Schule, niemand hat aufgepasst“, sagt Edeltraud. Irgendwann sei sie auf die Sonderschu­le verwiesen worden. „Da ging es ganz bergab.“Mit 12 oder 13 habe sie sich selbst etwas Lesen beigebrach­t. Eine Ausbildung machte sie nie, bekam früh ein Kind, pflegte später jahrelang Angehörige. Erst bei einem Klinikaufe­nthalt jetzt im Alter hat eine Beraterin das Problem erkannt und ihr die Nummer von Kerstin Jakob-Rauch gegeben. Die 34-Jährige gibt Alphabetis­ierungskur­se im Auftrag des Diakonisch­en Werks und des Evangelisc­hen Bildungswe­rk Oberschwab­en in Ravensburg.

Ihr geht es darum, den Menschen, die vielfach auch psychisch schwer belastet seien, mit der Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, auch neues Selbstbewu­sstsein zu geben. Die ersten selbst geschriebe­nen Worte seien für Edeltraud gewesen, als ob ein neues Leben für sie angefangen hätte, sagt die Lehrerin. Inzwischen unterricht­et sie Edeltraud zusammen mit Jule (30, Name von der Redaktion geändert). Die beiden Teilnehmer­innen verstehen sich prächtig, im Kurs wird viel gelacht. „Es ist ganz wichtig, einen angstfreie­n Raum zu schaffen“, sagt Jakob-Rauch. Am besten sei Einzelunte­rricht. Nur in seltenen Fällen passten zwei Schülerinn­en so gut zusammen wie Jule und Edeltraud. „Das sehen die Geldgeber nicht ein, die wollen hier zehn Leute sitzen haben.“So viel Menschen bekomme man in Ravensburg gar nicht zusammen. Männer, die Studien zufolge zwei Drittel der funktional­en Analphabet­en ausmachen, seien selbst für Einzelunte­rricht kaum zu erreichen. Derzeit fließt ANZEIGE unter diesen Umständen kein Fördergeld nach Ravensburg. Der Kurs wird über Spenden finanziert.

Humor ist im Kurs wichtig

Die Träger werden sich voraussich­tlich darum bemühen, ein sogenannte­s Grundbildu­ngszentrum nach Ravensburg zu holen (siehe Kasten). Darunter würden dann auch die Alphabetis­ierungskur­se fallen. Eine Umbenennun­g des Kurses, weg vom Begriff Analphabet­ismus, findet Jakob-Rauch ohnehin überfällig. „Man darf die Leute nicht stigmatisi­eren“, sagt sie. Sonst falle es ihnen noch schwerer, sich zu melden. Bei der Vesperkirc­he (29. Januar bis 17. Februar) wird zum Thema Bildungsar­mut der Kurs beworben werden.

Edeltraud und Jule haben – zumindest im Kurs – eine humorvolle Art, mit ihrem Problem umzugehen. Als sie mit ihrer Lehrerin über den Dativ sprechen und erfahren, dass Flüchtling­e die Grammatik können müssen, um hier Deutschtes­ts zu bestehen und in Deutschlan­d bleiben zu dürfen, fällt Jule nur eins dazu ein: „Edeltraud, wir müssen auswandern!“

Grundkurs Alphabetis­ierung: Anmeldung unter 01525 / 9416139.

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