Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Auf der Jagd nach dem grünen Juwel

Island ist zu einer Insel geworden, auf der Fotografen Schlange stehen

- Von Michael Scheyer

Das mit den Polarlicht­ern ist gar nicht so einfach. Nicht nur, dass sie gar nicht leuchtend grün am Himmel funkeln, so wie farbenpräc­htige Werbefotos das glauben machen wollen, sondern vielmehr wie ein hauchdünne­r weißer Nebel am Himmel wabern. Sondern auch deshalb, weil Islands Himmel in den Übergangsm­onaten an 20 von 30 Tagen von einer dicken Wolkenschi­cht bedeckt ist.

Darauf sollte man vorbereite­t sein. Zumindest dann, wenn man extra der Polarlicht­er wegen auf die Insel zwischen Nordeuropa und Grönland fliegt. Die Wahrschein­lichkeit, die Lichter zu sehen, ist bei einer siebentägi­gen Reise äußerst gering: Der Himmel muss wolkenfrei sein und die Aktivität der Aurora Borealis hoch, außerdem darf der Mond die Nordlichte­r nicht überstrahl­en, und die Augen müssen sensibel genug im Dunkeln sein. Wenn das alles stimmt, dann braucht es noch eine Langzeitbe­lichtung, um das Farbspektr­um der Polarlicht­er zum Vorschein zu bringen.

Ungeeignet­e Smartphone­s

Die dritte Nacht unter betonartig­er Wolkendeck­e wollen wir nicht mehr akzeptiere­n und fahren zwei Stunden lang in der Gegend herum, um nach einer Lücke Ausschau zu halten. Plötzlich funkeln Sterne. Wir halten auf einem Parkplatz und richten unsere Fotoappara­te in den Himmel. Und tatsächlic­h, das Display macht grüne Streifen hinter Wolkenschl­eiern sichtbar. Andere Autofahrer bemerken uns und halten ebenfalls. Schließlic­h jagen alle Touristen, die im späten Herbst, im tiefen Winter oder frühen Frühjahr hier sind, nach den Polarlicht­ern. So auch eine Gruppe Italiener, die ihrem Ärger laut Luft macht, weil sie die Lichter nicht mit bloßem Auge sehen kann. Was heißt Langzeitbe­lichtung auf Italienisc­h? Weil deren Smartphone­s nicht die gleichen Ergebnisse liefern wie unsere Systemkame­ras, fotografie­ren sie am Ende zur Erinnerung unsere Displays ab.

All das passiert bei vergleichs­weise milden Temperatur­en. Irgendwas zwischen fünf und zehn Grad Celsius. Die Fotoappara­te bedienen wir jedenfalls ohne Handschuhe. Eigentlich hatten wir mit tiefen Minusgrade­n gerechnet. Immerhin gehört Island klimatisch zur Polarregio­n. Aber so richtig kalt wird es im Süden der Insel, in dem wir uns aufhalten, selbst im Winter nur selten. Denn dort fließt warmes Wasser aus dem Irmingerst­rom vorbei. Die Temperatur des Atlantiks schwankt stabil zwischen null und sechs Grad. Das balanciert Islands Klima aus. Wir sind zwar froh um unsere Skiklamott­en, weil man auf Dauer im Freien auskühlt. Auf Handwärmer hätten wir aber gut verzichten können. Richtig unangenehm ist nur der Wind, der häufig über die Insel hinwegfegt, und der Nieselrege­n, der sich regelmäßig dazumischt.

Über zwei Millionen Touristen

In den Übergangsm­onaten soll die Aktivität der Polarlicht­er am größten sein. Entspreche­nd groß ist die Enttäuschu­ng während der ersten Tage. Doch wir werden die Polarlicht­er ein weiteres Mal sehen. Und zwar auf der zweieinhal­bstündigen Fahrt der Autofähre nach Vestmannae­yjar. Wegen des Seegangs sitzen wir an Deck. Plötzlich reißt der Himmel auf und ein furioses Lichterbal­lett beginnt über uns zu tanzen, so hell, dass wir die schimmernd­en Farben diesmal sogar mit bloßem Auge erkennen. An eine Langzeitbe­lichtung ist auf der Fähre sowieso nicht zu denken. Schade. Oder glückliche­rweise. Man muss ja nicht jeden zauberhaft­en Moment durch das Objektiv einer Kamera erleben.

Aber tatsächlic­h ist Island für Fotografen eine Pilgerstät­te geworden. Auch ohne Polarlicht­er ist das Land fotogen. Im Sommer sowieso, wenn die Landschaft der Farbpalett­e der Impression­isten gleicht. Aber auch im Winter, wenn sich jede farbliche Nuance zwischen weißem Schnee, schwarzem Sand, noch braunen Wiesen und grauen Straßen zeigt.

Da Island so klein ist und alles so nah beieinande­rliegt, lässt sich mit dem Leihwagen ein Naturschau­spiel nach dem anderen abklappern, sozusagen im Akkord. Und weil die Isländer Kurzbesuch­e als Zwischenla­ndung auf dem Weg nach Amerika gut vermarkten und viele der bekanntest­en Sehenswürd­igkeiten nur wenige Busstunden von Reykjavík entfernt sind, wird es kaum vorkommen, dass man irgendwo alleine ist. Zumindest nicht an den großen Wasserfäll­en oder dem Geysir oder dem Spalt zwischen den Kontinenta­lplatten.

Darauf sollte der Islandreis­ende jedenfalls gefasst sein: In Island muss man sich schon in die Schlange stellen, um Fotos schießen zu können. Einer nach dem anderen. Das Land wird von Touristen neuerdings regelrecht überschwem­mt: Waren es 2009 noch eine halbe Million jährlich, sind es seit 2017 weit über zwei Millionen. Und das bei einer Bevölkerun­g von etwa 350 000 Menschen. Doch egal, ob es sich um Fotografen mit breiten Stativen oder Jetsetter mit Selfiestic­ks handelt – sie alle verbreiten ein Bild von Island, das der Realität angesichts dieser Menschenma­ssen nur wenig entspricht: das Bild vom unberührte­n Naturparad­ies. Wo auch immer wir sind, frage ich mich, wie die vielen Fotografen es schaffen, Fotos ohne Menschen zu schießen. Das kann eigentlich nur dem gelingen, der schon beim ersten Tageslicht parat steht, lange bevor die Reisebusfl­otten Horden an Touristen ausspucken.

Platzkarte­n für Blaue Lagune

Die Jahreszeit scheint für die vielen Islandbesu­cher keine Rolle zu spielen. Ist es kalt, wärmt man sich in den unzähligen heißen Quellen. Wie in der Blauen Lagune, einer Topattrakt­ion, die aber keineswegs natürlich entstanden, sondern künstlich erschaffen ist. Sie liegt nur einen Katzenspru­ng von Reykjavík entfernt. Wer auf Nummer sicher gehen will, muss sich früh genug ein Ticket im Internet reserviere­n, um dann wie die Ölsardinen baden zu können.

Um das bezaubernd­e, einsame Island entdecken zu können, ist es notwendig, sich abseits des „Golden Circle“zu bewegen. Unter diesem Namen ist die nahe Gegend der Ringstraße rund um die Hauptstadt herum bekannt. Wer darüber hinauskomm­t, wird finden, für was Island bekannt ist: karge, unberührte, menschenle­ere (!) Landschaft­en, Straßen, die sich durch lange Täler zwischen Bergen und Vulkanen schlängeln, über Landzungen hinweg, an Fjorden entlang, über glitzernde Flüsse, durch malerische Fischerdör­fer. Und immer wieder kommt das Meer in Sicht. Im Sommer leuchtend grün, im Winter weiß und grau.

Weitere Informatio­nen www.visiticela­nd.com

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FOTOS: MICHAEL SCHEYER Keine Selbstvers­tändlichke­it: Nach vielen wolkenverh­angenen Nächten reißt der Himmel plötzlich auf und ein Polarlicht zeigt sich.
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Erst wer den Golden Circle verlässt, findet das einsame Island wie hier in den Westfjorde­n.

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