Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Für die Rente zu jung, zum Arbeiten zu krank
Bezieherinnen von Soziallseitungen erzählen in der Ravensburger Vesperkirche vom Leben mit wenig Geld
RAVENSBURG - Zu jung, um in Rente zu gehen, zu krank, um zu arbeiten – so beschreibt Claudia ihre Situation. Sie sitzt in der Vesperkirche und liest Zeitung. Von Hartz IV kann sie sich kein Abonnement leisten und genießt es, Neuigkeiten zu erfahren. Für Menschen wie Claudia (Name von der Redaktion geändert) ist die Vesperkirche wichtig: Während der drei Aktionswochen kann sie Geld sparen. Sie geht zum Vesperkirchenfrisör und isst in der Kirche für 1,50 Euro. „So billig kann ich daheim definitiv nicht kochen.“Im Gespräch erzählt sie, wie es ist, von Sozialleistungen zu leben.
Claudia ist 62 Jahre alt, geschieden, Mutter von fünf Kindern, Oma von fünf Enkeln. Sie hat Hauswirtschafterin im landwirtschaftlichen Bereich gelernt. Ihre Wirbelsäule sei kaputt, die Nervenschmerzen allgegenwärtig. Eine Zeit lang habe sie noch geputzt – „bis der Arzt gesagt hat, das geht nicht mehr“, sagt sie. „Wenn du den eigenen Haushalt nicht mehr ganz genau erledigen kannst, kannst du auch nicht mehr in andere Haushalte gehen.“
Familienzeit wird zum Nachteil
Seit Jahren werde sie immer wieder krankgeschrieben und lebe von Hartz IV. „Das ist schon sehr knapp berechnet“, sagt sie. Wenn alle zwingend nötigen Dinge bezahlt sind, bleibe nicht mehr viel übrig. „Wenn man – wie ich – an Weihnachten fünf Enkeln was schenken will, muss man das ganze Jahr dafür planen.“
Einen Weg aus der Sozialhilfe sieht sie für sich nicht mehr. Auch wenn sie alt genug für die Rente ist, werde sie zwischen 500 und 550 Euro monatlich aus der Rentenkasse bekommen – und damit weiterhin auf Grundsicherung angewiesen sein. Das liege daran, dass sie wegen der fünf Kinder lange nicht arbeiten gegangen ist. „Ich konnte keine Fulltime-Jobs machen. Und als ich hätte arbeiten können, bin ich krank geworden.“
Dass ihr die lange Familienzeit jetzt zum Nachteil wird, ist eigentlich der Punkt, der sie am meisten ärgert. „Hausarbeit ist ja keine Arbeit, das ist ja Vollzeitvergnügen“, sagt sie sarkastisch. „Wenn du Kinder kriegst, wirst du im Alter dafür auch noch mal bestraft.“Sie sagt „noch mal“, weil sie schon früher zu hören bekommen habe: „Was bist du asozial, setzt fünf Kinder in die Welt!“
Auch ihre jüngsten Kinder, die inzwischen schon aus dem Haus sind, seien mitbestraft worden, als die Mutter auf Sozialleistungen angewiesen war. Sie wurden krumm angeschaut, weil die Mutter sich kein Auto leisten und sie folglich nicht zu Partys oder zur Eisdisco fahren konnte.
Nachbarin als wichtige Helferin
Claudia lebt in einer Mietwohnung in Ravensburg und hat eine Nachbarin, die keine Kinder hat und das ganze Leben durcharbeiten konnte. Sie erhalte eine ausreichende Rente, sagt Claudia, und habe ihr schon öfter weitergeholfen. „Als mein Bruder gestorben ist, musste ich von meiner Nachbarin Geld leihen, damit ich mit der Bahn zur Beerdigung fahren konnte.“
Viele andere Besucher der Vesperkirche waren nie am ersten Arbeitsmarkt tätig. Die 50-jährige Christine erzählt, dass sie in den Oberschwäbischen Werkstätten für Menschen mit Behinderung (OWB) gearbeitet, dann aber eine Krebsdiagnose erhalten habe. Das liege schon einige Jahre zurück. Aktuell lebe sie von Hartz IV. Auf die Frage, wofür ihr das Geld fehlt, sagt sie: „Ausflüge. Urlaub.“Schon öfter habe sie beim Diakonischen Werk 15-Euro-Gutscheine für einen Einkauf bei einem Discounter holen müssen, weil ihr das Geld ausgegangen sei. Die Beratungsstelle der Diakonie habe ihr auch schon die Rechnung bezahlt, als sie Gasschulden gehabt habe, sagt die Frau, die von einer Betreuerin durchs Leben begleitet wird, anerkennend.
Auch die 67-jährige Michaela (Name von der Redaktion geändert) kommt gerne zur Vesperkirche, weil sie im Monat mit 200 Euro Taschengeld auskommen muss, das ihr ihre Betreuerin ausbezahlt. Obwohl sie kein leichtes Leben hinter sich hat und seit ihrer Jugend in Einrichtungen und Pflegefamilien lebt, wirkt sie unbeschwert und fröhlich.
Auch sie hat in den OWB gearbeitet, bis sie das Rentenalter erreicht hat. Sie habe die Möglichkeit, genug Geld zu sparen, um einmal im Jahr mit ihrer Betreuerin in den Urlaub nach Teneriffa reisen zu können. Darauf freue sie sich schon, sagt sei. Das verraten auch ihre leuchtenden Augen.
Die Vesperkirche in der Evangelischen Stadtkirche dauert noch bis Sonntag, 17. Februar.