Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Die Sehnsucht nach den Bergen

Wie Radrennfah­rerin Liane Lippert aus der Isolation die Diskussion um den Rennkalend­er bewertet

- Von Martin Deck

FRIEDRICHS­HAFEN - Noch gibt sich Christian Prudhomme kämpferisc­h. Nur Kriege hätten die Tour de France bislang ausbremsen können, verkündete der Tour-Direktor am 11. März im französisc­hen TV entschloss­en. Von einer Absage wegen der CoronaPand­emie wollte Prudhomme nichts wissen. Während fast alle andere Sportveran­staltungen in diesem Frühjahr und Sommer bereits abgesagt wurden, halten die Tour-Organisato­ren weiter am geplanten Start am 27. Juni in Nizza fest. Die Kritik daran wird jedoch immer lauter – vor allem vonseiten der Fahrer.

Liane Lippert kann das gut verstehen. „Wenn man sieht, was in Frankreich gerade abgeht, ist so ein Rennen schon kritisch“, sagt die Friedrichs­hafener Radrennfah­rerin, die in den vergangene­n Jahren selbst beim Eintagesre­nnen der Frauen im Rahmen der Tour („La Course“) teilgenomm­en hat.

Ihre Informatio­nen über den Zustand im Nachbarlan­d hat Lippert aus erster Hand. Ihre Teamkolleg­in Juliette Labous aus dem Team Sunweb ist wie die mehr als 60 Millionen Franzosen seit dem 17. März von einer Ausgangssp­erre betroffen. „Sie kann seit Wochen nur zu Hause auf der Rolle trainieren und darf nur einmal am Tag ihre Wohnung verlassen, um einzukaufe­n.“

Im Gegensatz dazu sei ihre Situation „fast schon Luxus“, sagt die 22Jährige. Normalerwe­ise bestreitet sie zu dieser Jahreszeit Rennen auf der ganzen Welt, jetzt lebt sie seit Anfang März bei ihren Eltern am Bodensee. „Das hält man schon gut aus. Aber so langsam fällt einem schon die Decke auf den Kopf.“Immerhin: Im Gegensatz zu anderen Sportlern, vor allem Mannschaft­en, könne sie mit ihrem Rad noch immer ganz gut individuel­l trainieren – mit einer Einschränk­ung: Mal kurz nach Österreich in die Berge fahren, ist derzeit nicht erlaubt. „Das fehlt mir schon ein bisschen“, sagt Lippert.

Noch mehr fehlt es Liane Lippert aber, sich mit anderen Fahrerinne­n zu messen – vor allem nachdem sie mit ihrem ersten World-Tour-Sieg in Australien und Platz zwei bei der Tour Down Under Anfang des Jahres gezeigt hat, wie gut sie momentan drauf ist. Diese Form versucht sie nun alleine zu halten, auch wenn unklar ist, wann es wieder einen Wettkampf geben wird. „Wir planen im Team jetzt mal damit, dass es vielleicht im Juni mit dem Giro Rosa weitergehe­n kann.“Der Giro d’Italia der Frauen ist momentan noch für die

Zeit vom 26. Juni bis zum 5. Juli geplant und soll anders als in den Vorjahren nicht in Norditalie­n stattfinde­n. „Man muss jetzt aber erstmal sehen, wie sich die Lage entwickelt“, sagt Lippert, die die Entscheidu­ng des IOC, die Olympische­n Spiele um ein Jahr nach hinten zu verschiebe­n, als „beste Lösung“bezeichnet.

Doch wie geht es mit dem Rennkalend­er an sich weiter? Um möglichst bald wieder die Rennen fortsetzen zu können, diskutiert der Weltverban­d UCI derzeit auch darüber, die Wettkämpfe ohne Zuschauer auszutrage­n. „Das wäre vielleicht eine Möglichkei­t, aber es ist einfach nicht das Gleiche“, sagt Liane Lippert. Die Tour lebe von den Zuschauern, die die Fahrer die Berge hochtreibe­n, ebenso wie die Klassiker der Frauen wie „La Flèche Wallonne“in Belgien, bei denen Tausende frenetisch­e Fans die Fahrerinne­n im Ziel erwarten. „Das wäre ohne Zuschauer schon komisch.“

Für die Teams sind aber das Wettkampfg­eschehen und die damit verbundene­n Werbe- und TV-Gelder wichtig, um zu überleben. Wie ihn vielen anderen Bereichen, denken wohl auch viele Radställe über Kurzarbeit nach – auch Liane Lipperts Team Sunweb. Die Friedrichs­hafenerin hat dafür Verständni­s: „Ich lebe zurzeit zu Hause bei meinen Eltern und kann eh kein Geld ausgeben. Bevor das Team ernste Probleme bekommt, verzichte ich lieber auf einen Teil meines Gehalts.“

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FOTO: VINCENT RIEMERSMA/TEAM SUNWEB Muss schon seit Wochen alleine trainieren: Radprofi Liane Lippert aus Friedrichs­hafen.

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