Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Architektur mit Raum für Visionen
Einblicke in die Geschichte der Verlagsbauten von Architekt Rolf Gutbrod und dem Aulendorfer Buchhändler Josef Rieck
AULENDORF - Der Architekt Rolf Gutbrod hat zusammen mit dem Buchhändler Josef Rieck in Aulendorf ein Gebäudeensemble gebaut, das nach dem Krieg neue Gedanken in eine Architektur mit Weitblick gefasst hat. Gleichzeitig sollte es gute Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter des Verlags Editio Cantor bieten. Heute führt der Verlag seine Geschäfte in den Räumen, die Geschichte atmen.
Im Bändelstockweg stehen die Bauten, die durch Josef Rieck ermöglicht wurden. Rieck ist in Aulendorf als bedeutender Akteur der „Gesellschaft Oberschwaben“bekannt. 1938 eröffnete er seine eigene Buchhandlung unter dem Namen „Rieck Aulendorf“. Nach dem Krieg arbeitete er mit Mitstreitern an keiner geringeren Aufgabe als der Erneuerung der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse. Dafür ließ er sich ein Gebäude bauen, das nicht nur als zweckmäßig konstruierte Versandbuchhandlung dienen, sondern mit seiner Architektur Raum für freies Denken bieten sollte.
Jörg Widmaier vom Landesamt für Denkmalpflege berichtete in „Denkmalpflege in Baden-Württemberg“in der Ausgabe 4/2019 über die außergewöhnliche Architektur und die damit verbundene Philosophie. Laut den Ausführungen Widmaiers hatte Rieck schon früh die Idee, für die neuen Gedanken ein passendes Gebäude zu schaffen. Mit Hugo Häring, einem aus Biberach stammenden Architekten, hielt Rieck von 1946 bis 1954 stets Kontakt.
Häring war Redner bei den Tagungen der „Gesellschaft Oberschwaben“im Aulendorfer Schloss. Die beiden Männer entwickelten Pläne für ein Gebäude, das einem Kloster ähnlich war. Mit dem Ende der „Gesellschaft Oberschwaben“im Jahr 1949 wurden auch die Ideen für dieses „Klösterle“genannte Projekt zur Seite gelegt. Die neuen Umstände forderten neue Baupläne, die den Bedürfnissen des Geschäftsmanns Rieck dienten.
Was nach dem Ende der „Gesellschaft Oberschwaben“blieb, waren Josef Riecks gute Kontakte zu Intellektuellen. Vermutlich ist es diesem Umstand zu verdanken, dass der Erbauer des umgesetzten Gebäudeensembles Professor Rolf Gutbrod war. Bauten wie die Liederhalle Stuttgart und der Deutsche Pavillon der Weltausstellung 1967 im kanadischen Montreal zählen zu seinen Werken. Die Neuwiesenschule in Ravensburg aus dem Jahr 1950 stammt ebenfalls von Gutbrod und weist Ähnlichkeiten zu den Verlagsgebäuden auf. Der Stil des in Stuttgart geborenen Architekten war neu: Wie einst die „Gesellschaft Oberschwaben“wollte er sich vom Gedankengut der Kriegsjahre
abwenden – und das auch sichtbar machen.
Rieck hatte sich nie ganz von der Idee seines „Klösterles“verabschiedet. Sein Bauprojekt wurde ein ungewöhnliches Gebäudeensemble aus Verlagsgebäude und Seminarhaus. Das Grundstück in Aulendorf mit seiner Hanglage ermöglichte den notwendigen Aus- und Weitblick.
Aus dem Jahr 1955 liegt ein Baugesuch für die weitläufige Anlage vor. Ursprünglich umfasste das Anwesen drei Gebäude: das Verlagsgebäude, das sogenannte Appartementhaus und ein Wohngebäude. Durch Umbauten wurde das Wohnhaus so verändert, dass man heute nicht mehr erkennt, dass es zum Ensemble gehört. Es hat inzwischen einen anderen Besitzer als die riegelförmig angeordneten Gebäude. Dass sich Eleganz und Zweckmäßigkeit nicht ausschließen, zeigt die momentane Nutzung. Auch heute hat ein Verlag seinen Sitz in den Bauten im Bändelstockweg. Diese wurden mit Sorgfalt renoviert, sodass sie sich heute originalgetreu zeigen. Claudius Arndt, der zusammen mit Andreas Gerth die Geschäfte des dort ansässigen „ECV Editio Cantor Verlag für Medizin und Naturwissenschaften GmbH“führt, bestätigt, dass bei den Renovierungsarbeiten im Jahr 1993 darauf geachtet wurde, den Stil zu erhalten. Es habe den Maler große Mühe gekostet, den Blauton der Fassade zu treffen.
Die heutigen Inhaber und Mitarbeiter des Verlags wussten, dass ihre Gebäude eine besondere Atmosphäre haben, doch die große architektonische Bedeutung wurde neu bewusst, als die Landesdenkmalpflege sich meldete – und nach einer Begehung des Gebäudes von der hohen Qualität des Baus begeistert war. Rolf Derenbach, ein früherer Mitarbeiter in Gutbrods Büro, sicherte 2011 dessen Nachlass und stieß auf dieses ihm bis dahin unbekannte Werk. Im „Landesarchiv Baden-Württemberg“, der „Akademie der Künste Berlin“und im „Karlsruher Institut für Technologie“finden sich heute Hinweise auf die Arbeiten des bekannten Architekten.
Betritt man das Verlagsgebäude, fällt das großzügige Foyer auf. Eine frei stehende Treppe führt in das untere Stockwerk. Die Wand aus Kalktuff und die Decke aus Sichtbeton bilden einen ungewöhnlichen Kontrast. Wenn man am Geländer steht, drängt sich der Eindruck auf, dass etwas nicht „in Ordnung“ist. Gutbrod verzichtete an einigen Stellen auf rechte Winkel , wo man sie erwarten würde. Der Eingangshalle wurden Balkone vorgelagert: ein zusätzliches Indiz dafür, dass die Gebäude nicht nur als Büro- und Geschäftsräume gedacht waren. Vom Balkon aus blickt man auf das gegenüberliegende sogenannte Appartementhaus.
Der Name weist auf die Idee des Baus hin: Hier war Raum für Begegnungen der Gäste und Mitarbeiter. Dass Josef Rieck ein für die damalige Zeit und die überschaubare Betriebsgröße ein außergewöhnliches Verständnis vom gemeinsamen Leben und Arbeiten hatte, ist überliefert. Rieck soll eine Kantine für die Mitarbeiter betrieben und viel Wert auf gute Gespräche gelegt haben, wurde von früheren Aulendorfer Mitarbeitern berichtet. Die Mitglieder des Aulendorfer Vereins „Traditio“, darunter Michael Osdoba, sammeln zu diesem Teil der Stadtgeschichte Belege. Im unteren Stockwerk des Gebäudes lässt ein offener Kamin die damaligen Begegnungen erahnen.
Der Verlag „Editio Cantor“nutzt auch heute diesen Bereich für Betriebsfeiern. Öffnet man die anschließende Tür, betritt man einen großzügig bemessenen Raum, der Claudius Arndt als Büro dient. „Das war früher die Kapelle“, erklärt der Geschäftsführer im Gespräch. Mit der Einbindung des sakralen Raums machte Josef Rieck deutlich, wie sehr seine Biografie die Themen Religion und Theologie begleiteten. Heute widmet man sich bei „Editio Cantor“medizinischen, pharmazeutischen und naturwissenschaftlichen Themen.
Der Verlag versteht es gut, mit filigranen Büromöbeln aus Glas und Stahl das Gebäude funktional für den Betrieb zu nutzen, aber Platz für die Geschichte zu lassen. Einige Möbel dagegen sind Jahrzehnte alt und wurden bewusst nicht entfernt.
Im Gebäude existieren immer noch Büros, die zur Zeit Riecks viel mehr waren: Die Schlaf- und Wohnkoje, um für wenige Nächte Gäste zu beherbergen, wird zwar nicht mehr genutzt, wurde aber auch nicht ausgebaut. Dass Riecks Kontakte in viele Richtungen gingen, zeigt ein in das Gebäude integriertes Buntglasfenster. Es ist signiert mit den Initialen W. Geyer. Der Ulmer Maler Wilhelm Geyer zählte zu den Kunden und Geschäftspartnern Josef Riecks. Beide vermittelten einander Kontakte, Adressen und Unterkünfte in verschiedenen Städten.
Die beiden Männer verband eine tiefe intellektuelle Freundschaft. Über ihn lernten Josef Rieck und seine Frau Erika in Ulm die Scholls und ihre Kinder Hans und Sophie kennen. Rieck und seine Frau hatten Kontakte zu Menschen, die dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstanden und mit denen sie den geistigen Austausch pflegten. Die Geschichte um Josef Rieck wurde 1996 von Herbert Hasenmaile und Oswald Burger in der Reihe „Heimatkunde Aulendorf“, früher eine Beilage zu „Aulendorf aktuell“, veröffentlicht.