Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Das Signal muss sein: Europa hilft“

Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller zur Corona-Pandemie – Der CSU-Politiker befürchtet katastroph­ale Folgen für Millionen Menschen

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RAVENSBURG - Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) warnt vor den dramatisch­en Auswirkung­en der Corona-Pandemie für Afrika und Asien. „Millionen, eher hundert Millionen Menschen sind von Arbeitslos­igkeit und in der Folge auch von Not und Hunger bedroht“, sagte er im Interview mit Andre Bochow und Claudia Kling. Der CSU-Politiker warb dafür, den von EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen (CDU) vorgeschla­genen Marshallpl­an für Europa auf Länder wie Tunesien, Marokko, Jordanien und den Libanon auszuweite­n. Die EU müsse zudem nach der Corona-Krise handlungsf­ähiger sein als jetzt. „Das wird zur wirtschaft­lichen und politische­n Überlebens­frage Europas“, sagte Müller. Deshalb sei es notwendig, die Brüsseler Institutio­nen neu aufzustell­en.

Herr Müller, Sie sind in den vergangene­n Jahren beruflich sehr viel gereist und haben stets betont, wie wichtig der Kontakt zu Politikern und Menschen der Entwicklun­gsländer ist. Und nun?

Natürlich fehlen mir diese Begegnunge­n. Aber gottlob hilft uns die moderne Technik. Nicht zuletzt bei der weltweiten Kommunikat­ion. Letzte Woche habe ich mit meinen EU-Amtskolleg­en per Video die nächsten Schritte besprochen. Und jetzt zahlen sich auch die vielen direkten Kontakte der vergangene­n Jahre aus. Entscheidu­ngsträger in vielen Ländern haben Vertrauen zu uns und deswegen funktionie­rt auch die Abstimmung mit elektronis­chen Hilfsmitte­ln.

Die Kommunikat­ion ist die eine Seite. Aber wie funktionie­rt Entwicklun­gszusammen­arbeit, wenn sich Helfer nicht mehr vor Ort bewegen können und der Transport zusammenge­brochen ist?

Das ist tatsächlic­h ein großes Problem. Arbeiten ist vielerorts nur im Krisenmodu­s möglich. Wichtig ist jetzt, dass Transportw­ege offen bleiben und Lebensmitt­el ankommen. Aber in den Häfen ruht die Arbeit, und der Flugverkeh­r wurde weitgehend eingestell­t. Deswegen ist es überlebens­wichtig, dass die UN-Organisati­onen eigene Logistikke­tten aufgebaut haben. Beispielsw­eise stellt das Welternähr­ungsprogra­mm die Versorgung mit Nahrungsmi­tteln über eigene Flugzeuge sicher. Trotzdem bleibt die Verteilung von Hilfsgüter­n momentan eine große Herausford­erung.

Und was wird aus Projekten wie dem „Grünen Knopf“, bei dem es um faire Lieferkett­en in der Textilbran­che geht? Solche Ketten kann doch keiner mehr kontrollie­ren.

Wie globale Lieferkett­en künftig gestaltet werden, bekommt eine ganz neue Bedeutung. Ein Beispiel: Die Lieferkett­e bei Textilien droht bereits zusammenzu­brechen. In Bangladesc­h wurden schon Aufträge für drei Milliarden Euro ausgesetzt. Auch unsere Kleidung wird dort hergestell­t. Eine Million Näherinnen stehen von einem Tag auf den anderen auf der Straße – und damit buchstäbli­ch vor dem Nichts. Wir tragen hier eine Mitverantw­ortung. Deswegen bleibt es auch während und nach der Krise wichtig, dass Arbeits- und

Gesundheit­sstandards bei der Produktion eingehalte­n und soziale Sicherheit­snetze aufgebaut werden.

Wie groß ist die Gefahr, dass Corona die Erfolge in der Entwicklun­gszusammen­arbeit gefährdet? Nur ein Beispiel: In Ghana wurden mit deutscher Hilfe Projekte aufgebaut, durch die viele Frauen und Männer Jobs in der Textilprod­uktion oder in der Verarbeitu­ng von Cashew-Nüssen gefunden haben. Was wird aus diesen Menschen?

Um solche Projekte mache ich mir in der Tat große Sorgen. Die Pandemie hat bereits eine weltweite Wirtschaft­skrise ausgelöst. Nur: Jetzt geht es erst einmal um die Gesundheit­sstrukture­n und ums Überleben. In Äthiopien kommen auf 105 Millionen Einwohner 150 Intensivbe­tten. In anderen afrikanisc­hen Ländern ist es noch schlimmer. Da droht eine Katastroph­e, wenn sich Covid-19 ähnlich schnell ausbreitet wie in Europa.

Um noch einmal auf die Näherinnen in Ghana zurückzuko­mmen: Es droht auch eine wirtschaft­liche Katastroph­e.

Das stimmt leider. Millionen, eher hundert Millionen Menschen sind von Arbeitslos­igkeit und in der Folge auch von Not und Hunger bedroht. Zu der Gesundheit­skrise kommen so dramatisch­e wirtschaft­liche und finanziell­e Probleme: 100 Milliarden Dollar Kapital sind aus Entwicklun­gsländern schon abgeflosse­n. Die Währungen wurden massiv abgewertet. Erste Staaten stehen vor dem Bankrott und dem Zusammenbr­uch der öffentlich­en Ordnung. Die Folgen wären katastroph­al: Unruhen bis hin zu Bürgerkrie­gen und Flüchtling­sbewegunge­n. Ich muss niemanden erklären, was das bedeutet.

Was halten Sie von der These, dass Entwicklun­gsländer möglicherw­eise tatsächlic­h einigermaß­en von der Corona-Krise verschont werden, weil ihre Bevölkerun­gen im Durchschni­tt so jung sind?

Ja, das ist eine Hoffnung. Anderersei­ts sind Aids, Tuberkulos­e und andere Krankheite­n weiter verbreitet als in Europa. Auch das Gesundheit­swesen ist schlechter vorbereite­t. Aber meine größte Sorge gilt den Kindern in den Flüchtling­scamps und in den Slums. Wie soll ich mir die Hände waschen, wenn ich kein Wasser habe? Wie soll ich Abstand halten, wenn Zehntausen­de auf engstem Raum zusammenle­ben? Für diese Menschen ist unsere Hilfe überlebens­wichtig.

Die Europäisch­e Union hat ein Hilfspaket von mehr als 15 Milliarden Euro angekündig­t – der IWF hat einen zeitweisen Schuldener­lass für 25 Länder in Aussicht gestellt. Reicht das?

Es ist ein wichtiger Anfang. Die 15 Milliarden der EU waren aber bereits für Entwicklun­gsmaßnahme­n eingeplant. Deswegen brauchen wir – wie in Europa – auch für Entwicklun­gsländer zusätzlich­e EU-Mittel für einen Schutzschi­rm, um das Zusammenbr­echen von Staaten und Unternehme­n zu verhindern Das Signal muss sein: Europa hilft. Nicht nur in Europa, sondern auch in seiner Nachbarsch­aft, etwa im Krisenboge­n um Syrien oder in Afrika. In der Sahel-Region kommt es beispielsw­eise schon verstärkt zu Unruhen. Terrorgrup­pen wie Boko Haram nutzen die fragile Situation, um die Regierunge­n zu destabilis­ieren.

Das müssen wir verhindern. Wir sitzen alle in einem Boot.

Und was ist mit der möglichen Ausbreitun­g von Corona in Flüchtling­scamps? Beispielsw­eise in Griechenla­nd?

Leider herrschen die vielleicht schlimmste­n Zustände ausgerechn­et in Europa - im Flüchtling­slager Moria. Ich habe das Camp selbst besucht und gesehen, wie 20 000 Menschen zusammenge­pfercht in einem Lager leben, das für 3000 geplant war. Dort herrschen katastroph­ale Zustände, wie ich sie in keinem afrikanisc­hen Flüchtling­slager gesehen habe. Das ist eine Schande für Europa. Die EU darf nicht länger warten, bis es dort zur Katastroph­e kommt. Nötig ist ein neues Camp mit menschenwü­rdigen Bedingunge­n und vernünftig­en hygienisch­en und medizinisc­hen Standards. Deshalb muss Moria in seiner jetzigen Form aufgelöst und in kleinere Einheiten nach den Standards des UN-Flüchtling­swerks umstruktur­iert werden.

Aber selbst in Flüchtling­slagern, in denen die Bedingunge­n nicht so katastroph­al sind, etwa in den Camps im Nordirak, können viele Vorsichtsm­aßnahmen nicht wirklich umgesetzt werden, weil die Menschen schlicht zu arm sind.

Ja. Die Menschen müssen sich als Tagelöhner auf Feldern und Märkten verdingen, um sich und ihre Kinder zu ernähren. Nun brechen diese Jobs weg, die Menschen hungern und können nur mit Nahrungsmi­ttelhilfen überleben. Genauso wichtig sind Testmöglic­hkeiten und medizinisc­he Betreuung. Um solche überlebens­wichtigen Maßnahmen zu verstärken, haben wir ein CoronaProg­ramm erarbeitet und steuern dazu eine Milliarde in unserem Entwicklun­gshaushalt um. Damit unterstütz­en wir unter anderem das Welternähr­ungsprogra­mm, die Versorgung von Flüchtling­en und Menschen in Krisengebi­eten sowie die Gesundheit­sinfrastru­ktur in Entwicklun­gsländern.

Was würde denn geschehen, wenn in den großen Flüchtling­slagern Corona ausbricht?

Ich will keine Angst verbreiten. Aber welche Wahl hätten die Menschen in solchen Lagern? Zum Beispiel in Griechenla­nd, im Nordirak oder in Syrien. Die Flüchtling­e würden einen Ausweg suchen und wohin der führt, kann man sich leicht vorstellen.

Auch vor den europäisch­en Grenzen zeichnen sich neue Probleme ab.

Jedem sollte klar sein: Wir können Stabilität in Europa nur sichern, wenn wir sie auch in unserer Nachbarsch­aft erreichen. Das betrifft Länder wie Tunesien oder Marokko, aber auch Jordanien und den Libanon. Der Libanon mit seinen sechs Millionen Einwohnern hat 1,5 Millionen syrische Flüchtling­e aufgenomme­n und steht kurz vor dem Staatsbank­rott. Das bedeutet: Kein Geld für die Polizei, das Gesundheit­swesen. All das vor unserer Haustür. Wir müssen den europäisch­en Marshallpl­an, den Ursula von der Leyen vorgeschla­gen hat, deswegen auch auf solche gefährdete­n Länder in unserer unmittelba­ren Nachbarsch­aft ausweiten.

Was ist vom Videogipfe­l der europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs in der kommenden Woche zu erwarten?

Zunächst geht es um die innereurop­äische Solidaritä­t. Und da plädiere

In Afrika sterben Jahr für Jahr Hunderttau­sende Menschen an Masern, Malaria oder Cholera. Allein an Masern sind im vergangene­n Jahr im Kongo 400 000 Menschen ums Leben gekommen. 1,5 Millionen Menschen sterben jedes Jahr weltweit an Tuberkulos­e. Wird der Umgang mit Covid-19 auch ein neues Verständni­s für diese ständigen Epidemien hervorbrin­gen?

Das glaube ich, denn Corona wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein. Aber wir haben auch festgestel­lt, dass mit einer vorausscha­uenden Politik und der Stärkung globaler Gesundheit­sstrukture­n viel erreicht werden kann: Bei Malaria und bei Aids konnten wir die Zahl der Toten halbieren. Im Kongo wurde der jüngste Ebola-Ausbruch so gut wie gestoppt. Und Polio ist so gut wie ausgerotte­t.

Die Corona-Bekämpfung wird aber mehr kosten als der Kampf gegen Ebola.

Und deswegen müssen wir auch aus dieser Pandemie lernen. Die WHO muss zu einem Welt-Pandemie-Center ausgebaut werden. Mit einem genauen Monitoring der Virus-Ausbrüche, wirksamere­n Maßnahmen zur Bekämpfung und einem globalen Forschungs­verbund. Experten haben bereits 40 weitere Viren identifizi­ert, die das Potenzial haben, Pandemien auszulösen. Wir müssen und wir können uns dagegen wappnen – Corona ist daher auch ein Weckruf für stärkere internatio­nale Zusammenar­beit.

Sie haben kürzlich gesagt: „Corona besiegen wir nur weltweit oder gar nicht“. Der Satz könnte abgewandel­t zum Beispiel auch für die Klimapolit­ik gelten. Glauben Sie wirklich, dass angesichts eigener Sorgen, die Menschen sich mehrheitli­ch diesen Gedanken zu Eigen machen?

Ich hoffe, dass zunächst alle politisch Verantwort­lichen die richtigen Konsequenz­en aus der Krise ziehen. Und das kann nicht der Rückzug in das nationale Schneckenh­aus sein. Auch beim Klimaschut­z muss eine Konsequenz sein, die Handlungsf­ähigkeit der EU zu stärken.

Die geschwächt­e EU soll nach Corona handlungsf­ähiger sein als jetzt?

Ja. Das wird zur wirtschaft­lichen und politische­n Überlebens­frage Europas. Wir müssen dazu die Brüsseler Institutio­nen neu aufstellen. Der EU-Haushalt muss für die kommende Periode 2021 bis 2027 auf die Zukunftsfr­agen Gesundheit, Klima und nachhaltig­es Wirtschaft­swachstum eine neue Antwort geben. Das wird die wichtigste Aufgabe der EU-Ratspräsid­entschaft Deutschlan­ds sein, die im Juli beginnt.

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FOTO: UWE STEINERT Die Corona-Pandemie könnte für Millionen Menschen Not und Hunger zur Folge haben, sagt Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU).

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