Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Nachts, wenn alles schläft
Zustellerin Margot Sailer versorgt täglich Leser mit der Zeitung – auch in schweren Zeiten
PRIMISWEILER - Jeder Schritt auf dem Weg zu dem Briefkasten an der Seite des Hauses hinterlässt einen Fußabdruck im frostigen Gras – und ein Knirschen, das man nicht hören aber unter der Sohle fühlen kann. Die minus vier Grad kalte Luft verwandelt Margot Sailers Atem in tanzenden Dampf. Auf ihrem rechten Arm wippt beim Laufen ein Stapel Zeitungen. In ihrer Hand: ein Bündel von Briefen. Mit der anderen zieht sie den roten Zeitungswagen. Es ist 2.30 Uhr am Morgen, wenn die 47-Jährige in Primisweiler bei Wangen von Briefkasten zu Briefkasten zieht. „Dann lohnt es sich nach der Arbeit wenigstens noch ins Bett zu gehen“, sagt sie.
Seit neun Jahren ist sie Zustellerin für zwei Bezirke. Mehr als 120 Ausgaben der „Schwäbischen Zeitung“und mehrere Bündel Südmail-Post pro Tag schiebt sie in Zeitungsrohre oder durch Briefschlitze. Und auch jetzt, während auf der Welt das Coronavirus für viel Verunsicherung sorgt, steht Sailer Nacht für Nacht auf und stellt sicher, dass neue Informationen und Hintergründe ihren Weg zu den Lesern finden. Damit gehört sie zu den vielen Menschen, die im Moment den Alltag am Laufen halten. Auch, wenn sich die Nächte für Sailer zurzeit nicht anders anfühlen als sonst. „Für uns verändert sich eigentlich nichts“, sagt sie. Nur die Menge der Post sei in den vergangenen Tagen weniger geworden. „Und in den Häusern brennt nachts weniger Licht“, sagt sie. Das seien vermutlich die Schichtarbeiter, die jetzt zu Hause bleiben, mutmaßt die 47-Jährige. „Ich bin ganz froh, dass ich diese Arbeit machen kann.“
Alles beginnt für Sailer mit einer Stellenausschreibung in der Zeitung. Kurze Zeit später übernimmt sie ihren ersten Bezirk. Ein Jahr später kommt ein weiterer hinzu. „Ich konnte was schaffen, während die Kinder im Bett sind“, sagt die fünffache Mutter heute. Mittlerweile sind fast alle Kinder aus dem Haus. Der Zustellerjob ist geblieben. Denn die Arbeit in den frühen Morgenstunden macht ihr nicht nur Spaß sondern gibt ihr tagsüber auch den Freiraum, sich in mehreren Ehrenämtern zu engagieren: In der Kirchengemeinde und bei der Nachbarschaftshilfe.
In einem Hauseingang steht eine ältere Dame auf dem Treppenabsatz und wartet auf ihre Zeitung – um 3 Uhr morgens. „Guten Morgen“, sagt Sailer und gibt ihr die neue Ausgabe. Mehr Menschen begegnen ihr in dieser Nacht nicht. Das ist meistens so. „Es gibt zwei Leute, die oft mit ihren Hunden Gassi gehen. Aber auch nicht immer“, sagt Sailer. Auf ihren nächtlichen Touren ist sie allein. „Was mir gefällt, ist dass mir niemand reinschwätzt“, sagt die 47Jährige und lacht. Denn während sie ihren Wagen von Haus zu Haus zieht, hat sie Zeit zum Nachdenken. „Da ist schon die eine oder andere gute Idee entstanden“, sagt sie.
Zu Fuß und mit dem Fahrrad transportiert sie normalerweise die Zeitungen – wenn das Wetter es zulässt. Wenn nicht, fährt sie zwischen den Bezirken mit dem Auto. Im Winter sei sie schon mal im Schnee stecken geblieben. „Um die Uhrzeit räumt noch keiner die Straße“, sagt sie. Zum Glück sei schon ein Anwohner in der Straße wach gewesen und habe sie herausgezogen. Doch Sailer kennt sich aus und weiß, welche Straße sie bei welchem Wetter befahren kann. Namen auf Briefkästen muss sie längst nicht mehr suchen. Die gebürtige Primisweilerin kennt jedes Haus, jeden Namen, weiß wo welches Haustier lebt. Sie zeigt auf zwei Häuser vor ihr: „In den beiden Häusern wohnt jeweils ein Hahn. Die machen öfter mal einen Wettstreit.“
In manchen Straßen funktioniert die Beleuchtung nicht. Nur alle paar Minuten springt ein Bewegungsmelder vor einer Haustür an, wenn Sailer sich nähert. Ansonsten ist es dunkel. Dann macht Sailer ihre Stirnlampe an und läuft weiter durch die Nacht. Die Sterne am Himmel wirken, als seien sie gerade erst mit einem feinen Pinsel aufgetupft worden und die Farbe noch nicht getrocknet. „Manchmal sehe ich Sternschnuppen“sagt Margot Sailer. „Und man kann riechen, wenn es Frühling wird.“Nachts könne man das besser wahrnehmen, was so durch die Luft fliegt.
Margot Sailer ist nicht die einzige, die dieser Tage die Leser mit Nachrichten versorgt. Insgesamt arbeiten zwischen Bodensee und Ostalb, von Tuttlingen bis zum Allgäu 5200 Austräger und 100 Fahrer für den Zustelldienst Merkuria, der dafür sorgt, dass die Zeitung vom Druckhaus in den Briefkasten gelangt. „In der aktuell schwierigen Lage steigt auf verschiedenen Seiten die Anerkennung unserer Zusteller und deren Arbeit. Auf Leserseite kommen noch nie dagewesene Dankbarkeitsbekundungen, dass wir die Bevölkerung jeden Morgen mit Informationen versorgen“, erklärt Alexander Bachmann, Geschäftsführer des Merkuria Zustelldienstes. Auf Zustellerseite steige das Bewusstsein um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes. „Wir haben hohe Bewerberzahlen von Menschen, die Teil unserer Mannschaft werden wollen und damit die zwar relativ einfache aber doch wichtige und systemrelevante Aufgabe übernehmen möchten.“
Die Anerkennung von den Lesern spürt auch Margot Sailer. Vor allem um die Weihnachtszeit finde sie in mancher Zeitungsrolle Schokolade oder ein Kuvert. „Ich schreibe dann jedem eine Dankeskarte“, sagt sie. Auch deswegen macht Sailer weiter und wird auch in der kommenden Nacht wieder um 2 Uhr aufstehen, ihren roten Zeitungswagen packen und die Zeitungsleser in Primisweiler mit der neuen Ausgabe versorgen.