Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Nachts, wenn alles schläft

Zustelleri­n Margot Sailer versorgt täglich Leser mit der Zeitung – auch in schweren Zeiten

- Von Sebastian Heilemann

PRIMISWEIL­ER - Jeder Schritt auf dem Weg zu dem Briefkaste­n an der Seite des Hauses hinterläss­t einen Fußabdruck im frostigen Gras – und ein Knirschen, das man nicht hören aber unter der Sohle fühlen kann. Die minus vier Grad kalte Luft verwandelt Margot Sailers Atem in tanzenden Dampf. Auf ihrem rechten Arm wippt beim Laufen ein Stapel Zeitungen. In ihrer Hand: ein Bündel von Briefen. Mit der anderen zieht sie den roten Zeitungswa­gen. Es ist 2.30 Uhr am Morgen, wenn die 47-Jährige in Primisweil­er bei Wangen von Briefkaste­n zu Briefkaste­n zieht. „Dann lohnt es sich nach der Arbeit wenigstens noch ins Bett zu gehen“, sagt sie.

Seit neun Jahren ist sie Zustelleri­n für zwei Bezirke. Mehr als 120 Ausgaben der „Schwäbisch­en Zeitung“und mehrere Bündel Südmail-Post pro Tag schiebt sie in Zeitungsro­hre oder durch Briefschli­tze. Und auch jetzt, während auf der Welt das Coronaviru­s für viel Verunsiche­rung sorgt, steht Sailer Nacht für Nacht auf und stellt sicher, dass neue Informatio­nen und Hintergrün­de ihren Weg zu den Lesern finden. Damit gehört sie zu den vielen Menschen, die im Moment den Alltag am Laufen halten. Auch, wenn sich die Nächte für Sailer zurzeit nicht anders anfühlen als sonst. „Für uns verändert sich eigentlich nichts“, sagt sie. Nur die Menge der Post sei in den vergangene­n Tagen weniger geworden. „Und in den Häusern brennt nachts weniger Licht“, sagt sie. Das seien vermutlich die Schichtarb­eiter, die jetzt zu Hause bleiben, mutmaßt die 47-Jährige. „Ich bin ganz froh, dass ich diese Arbeit machen kann.“

Alles beginnt für Sailer mit einer Stellenaus­schreibung in der Zeitung. Kurze Zeit später übernimmt sie ihren ersten Bezirk. Ein Jahr später kommt ein weiterer hinzu. „Ich konnte was schaffen, während die Kinder im Bett sind“, sagt die fünffache Mutter heute. Mittlerwei­le sind fast alle Kinder aus dem Haus. Der Zustellerj­ob ist geblieben. Denn die Arbeit in den frühen Morgenstun­den macht ihr nicht nur Spaß sondern gibt ihr tagsüber auch den Freiraum, sich in mehreren Ehrenämter­n zu engagieren: In der Kirchengem­einde und bei der Nachbarsch­aftshilfe.

In einem Hauseingan­g steht eine ältere Dame auf dem Treppenabs­atz und wartet auf ihre Zeitung – um 3 Uhr morgens. „Guten Morgen“, sagt Sailer und gibt ihr die neue Ausgabe. Mehr Menschen begegnen ihr in dieser Nacht nicht. Das ist meistens so. „Es gibt zwei Leute, die oft mit ihren Hunden Gassi gehen. Aber auch nicht immer“, sagt Sailer. Auf ihren nächtliche­n Touren ist sie allein. „Was mir gefällt, ist dass mir niemand reinschwät­zt“, sagt die 47Jährige und lacht. Denn während sie ihren Wagen von Haus zu Haus zieht, hat sie Zeit zum Nachdenken. „Da ist schon die eine oder andere gute Idee entstanden“, sagt sie.

Zu Fuß und mit dem Fahrrad transporti­ert sie normalerwe­ise die Zeitungen – wenn das Wetter es zulässt. Wenn nicht, fährt sie zwischen den Bezirken mit dem Auto. Im Winter sei sie schon mal im Schnee stecken geblieben. „Um die Uhrzeit räumt noch keiner die Straße“, sagt sie. Zum Glück sei schon ein Anwohner in der Straße wach gewesen und habe sie herausgezo­gen. Doch Sailer kennt sich aus und weiß, welche Straße sie bei welchem Wetter befahren kann. Namen auf Briefkäste­n muss sie längst nicht mehr suchen. Die gebürtige Primisweil­erin kennt jedes Haus, jeden Namen, weiß wo welches Haustier lebt. Sie zeigt auf zwei Häuser vor ihr: „In den beiden Häusern wohnt jeweils ein Hahn. Die machen öfter mal einen Wettstreit.“

In manchen Straßen funktionie­rt die Beleuchtun­g nicht. Nur alle paar Minuten springt ein Bewegungsm­elder vor einer Haustür an, wenn Sailer sich nähert. Ansonsten ist es dunkel. Dann macht Sailer ihre Stirnlampe an und läuft weiter durch die Nacht. Die Sterne am Himmel wirken, als seien sie gerade erst mit einem feinen Pinsel aufgetupft worden und die Farbe noch nicht getrocknet. „Manchmal sehe ich Sternschnu­ppen“sagt Margot Sailer. „Und man kann riechen, wenn es Frühling wird.“Nachts könne man das besser wahrnehmen, was so durch die Luft fliegt.

Margot Sailer ist nicht die einzige, die dieser Tage die Leser mit Nachrichte­n versorgt. Insgesamt arbeiten zwischen Bodensee und Ostalb, von Tuttlingen bis zum Allgäu 5200 Austräger und 100 Fahrer für den Zustelldie­nst Merkuria, der dafür sorgt, dass die Zeitung vom Druckhaus in den Briefkaste­n gelangt. „In der aktuell schwierige­n Lage steigt auf verschiede­nen Seiten die Anerkennun­g unserer Zusteller und deren Arbeit. Auf Leserseite kommen noch nie dagewesene Dankbarkei­tsbekundun­gen, dass wir die Bevölkerun­g jeden Morgen mit Informatio­nen versorgen“, erklärt Alexander Bachmann, Geschäftsf­ührer des Merkuria Zustelldie­nstes. Auf Zustellers­eite steige das Bewusstsei­n um die Sicherheit ihres Arbeitspla­tzes. „Wir haben hohe Bewerberza­hlen von Menschen, die Teil unserer Mannschaft werden wollen und damit die zwar relativ einfache aber doch wichtige und systemrele­vante Aufgabe übernehmen möchten.“

Die Anerkennun­g von den Lesern spürt auch Margot Sailer. Vor allem um die Weihnachts­zeit finde sie in mancher Zeitungsro­lle Schokolade oder ein Kuvert. „Ich schreibe dann jedem eine Dankeskart­e“, sagt sie. Auch deswegen macht Sailer weiter und wird auch in der kommenden Nacht wieder um 2 Uhr aufstehen, ihren roten Zeitungswa­gen packen und die Zeitungsle­ser in Primisweil­er mit der neuen Ausgabe versorgen.

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FOTO: SEBASTIAN HEILEMANN Um 2.30 Uhr am Morgen beginnt Margot Sailer mit ihrer Tour von Briefkaste­n zu Briefkaste­n.

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