Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Behindert Corona uns Behinderte noch mehr?
Oberschwaben bleiben daheim – wir Behinderten auch. Und dort behindert uns auch zu Coronas Zeiten alles nur im üblichen Maße. Haushalt, Putzen, Wäsche waschen, Briefkasten leeren, Müll zum Container – alles wie immer. Aber schon im Treppenhaus grüßt die Nachbarin freundlich, und wir grübeln über den passenden Sicherheitsabstand – für sie und für uns selbst: Weil ich blind bin, seh’ ich nicht, wie weit sie von mir weg steht – aber sie spricht ja, und so hör’ ich, ob ich ausreichend Abstand halte. Endlich hat so auch das Ratschen mal seine guten Seiten.
Meine Stammfriseurin fehlt mir beziehungsweise meinem mittlerweile wallenden Haupthaar. Das Nebenhaar – mitten im Gesicht – stutze ich immer schon selber, aber meine Frisur fühlt sich an, wie es in meinen Schülerjahren Mode war.
Bei meinen Einkäufen auf dem Aulendorfer Wochenmarkt muss ich bei jedem Stand, von dem ich was möchte, fragen, wo die Warteschlange endet. Weil fast alle Marktbesucher „guten Abstand“halten, schlängele ich mich mit meinem Blindenstock prima mittendurch, ohne jemanden anzustupsen.
Auch die Fleischerei ist meine Haushaltsaufgabe: Dort ruf ich an, frag nach den Wochenangeboten, bestell’ und hol’ kurz später ab. Man lotst mich dort per Zuruf kollisionsfrei zur Kasse um die Warteschlange herum. Die leicht zu findende Restaurant-Seitentür für die frische Pizza sorgt auch heute dafür, dass meine Frau nicht jeden Tag kochen muss.
Hobbymäßig passiert auch sonst bei mir fast alles daheim, wo mein sprechender Computer steht und mich mit der ganzen Welt verbindet. So komme ich zwar immer noch an meine Technologie- und Elektroniknachrichten, aber die wichtigste Fachmesse für Blinden- und Sehbehindertenhilfsmittel, SightCity, fällt in diesem Mai aus. Auch unser Segelturn von Rotterdam zum Hamburger
Hafengeburtstag ist abgesagt.
Als Vorsitzender im Stadtseniorenrat und als Behindertenbeauftragter bin ich ständig unterwegs, was durch Corona ja wegfällt. Also habe ich mehr Zeit, all den lange liegengebliebenen Schriftkram wie Protokolle und Stellungnahmen zu formulieren und „zu Tastatur zu bringen“. Wenn meine Mitglieder dies alles lesen müssen, sind auch sie gut beschäftigt und vor Langeweile geschützt.
Die Methode meiner Frau, mich nachhaltig auf Abstand zu halten, das ist ihr manchmal zu hoch dosiertes Parfüm oder Deo. Warum ich – bei Windstille – so selten unterwegs an Frauen anstupse, sollte da nicht wundern.
Fast alle Behinderungen behindern uns am Reisen; da sind Telefonund Videokonferenzen ein Schritt, große räumliche Abstände wie mit Siebenmeilenstiefeln zu überhüpfen.
Wie Hörbehinderte dies empfinden, das allerdings wird uns allen dabei mehr als deutlich. Hier kann’s nur helfen, dass wir die bei einigen Online-Konferenzpaketen mögliche Transskription – das zeitnahe Umwandeln des Gesprochenen in Schriftform – zuschalten und dafür besonders deutlich sprechen. Rollstuhlfahrer hingegen schmunzeln: „Endlich mal richtig Platz auf dem Gehweg!“
Corona behindert uns ja jetzt alle. Da sollten wir vorneweg einmal an unsere alleinlebenden Bekannten und Verwandten denken, denen gerade „die Decke auf den Kopf fällt“, und dort öfters mal anrufen. Ich fang damit sofort an ...
Franz Erwin Kemper, Behindertenbeauftragter und Vorsitzender des Stadtseniorenrats Aulendorf