Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Das Zögern rächt sich

Der Kampf gegen das Coronaviru­s in Großbritan­nien hält an – Nahm Johnson die Pandemie ernst genug?

- Von Sebastian Borger

LONDON - Der Landsitz Chequers in der lieblichen Landschaft der Chilterns, etwa 60 Kilometer nordwestli­ch von London, gehört zu den erfreulich­en Aspekten des Jobs als britischer Premiermin­ister. Viele Amtsinhabe­r haben die Annehmlich­keiten des Herrenhaus­es samt Tennisplat­z und Swimmingpo­ol zum Ausgleich vom anstrengen­den Job zu schätzen gewusst.

Derzeit erholen sich Boris Johnson und seine schwangere Verlobte Carrie Symonds auf Chequers von ihren Covid-19-Erkrankung­en; beim 55-Jährigen ging es in der Karwoche eigenen Angaben zufolge um Leben und Tod, was die Rekonvales­zenz besonders notwendig macht. Inzwischen erhalte der Regierungs­chef wieder tägliche Updates, gelegentli­ch auch Besuch seiner engsten Berater, hieß es am Montag aus der Downing Street. „Aber er konzentrie­rt sich weiterhin auf seine Erholung.“

Gleichzeit­ig mehrt sich in London die Kritik von Presse und Opposition sowie von Gesundheit­sfachleute­n am Vorgehen der britischen Regierung in der Corona-Krise. Im Mittelpunk­t stehen zwei Fragen: Haben Johnson und sein engstes Team die Anfänge der Pandemie zu Jahresbegi­nn ernst genug genommen? Sind Vize-Premier Dominic Raab und das Kabinett in Abwesenhei­t des Chefs den anhaltende­n Problemen gewachsen und zu eigenen Entscheidu­ngen fähig?

Experten und Praktikern reißt angesichts der aktuellen Misere zunehmend der Geduldsfad­en, im Mittelpunk­t der Kritik stehen fehlende Schutzklei­dung (PPE) für Betreuer, Ärztinnen und Krankenpfl­eger und zu wenig Tests auf Sars-CoV-2. Zudem bestehen anhaltende Zweifel daran, ob die Zahl der an Covid-19 Erkrankten und Verstorben­en von der Regierungs­statistik korrekt wiedergege­ben wird.

Immer wieder haben Minister vollmundig­e Ankündigun­gen gemacht, die sich als leere Verspreche­n herausstel­len. Als Ende vergangene­r Woche bekannt wurde, dass in einzelnen Spitälern im Londoner Umfeld die Schutzkitt­el fürs medizinisc­he Personal knapp werden, kündigte Regionalmi­nister Robert Jenrick für Sonntag die Ankunft eines

Fliegers aus der Türkei mit 84 Tonnen Schutzklei­dung, darunter 400 000 Kitteln, an. Doch die Lieferung blieb aus. Er habe „nur geringe Hoffnung“, dass das Verspreche­n am

Nach wochenlang­er Unterbrech­ung wegen der Ausbreitun­g des Coronaviru­s haben Großbritan­nien und die EU ihre Gespräche über die Zeit nach dem Brexit wieder aufgenomme­n. Die Unterhändl­er beider Seiten setzten am Montagnach­mittag ihre Verhandlun­gen per Video-Konferenz fort. Dabei geht es insbesonde­re um die Frage, ob der Abschluss eines Handelsabk­ommens bis Jahresende noch möglich ist. Die Gesprächsr­unde soll bis Ende der Woche dauern. Großbritan­nien war am

Montag eingelöst werde, teilte Chris Hopson von NHS Providers den Medien mit.

Ohnehin solle man den verunsiche­rten Mitarbeite­rn an der Coronafron­t 31. Januar aus der EU ausgetrete­n. In einer Übergangsp­hase bis Jahresende bleibt das Land noch im EU-Binnenmark­t und in der Zollunion. In dieser Zeit wollen beide Seiten Vereinbaru­ngen zu ihren künftigen Beziehunge­n schließen. Nach einer ersten Verhandlun­gsrunde hatten beide Seiten Anfang März große Differenze­n betont. Dabei ging es insbesonde­re um die Anerkennun­g von EU-Standards, die Rolle des Europäisch­en Gerichtsho­fs und ein Abkommen zur Fischerei. (AFP)

keine falschen Hoffnungen machen: „Vergangene Woche sollten aus China 200 000 Kittel eintreffen, in Wirklichke­it waren es 20 000.“Insgesamt werden im NHS täglich 150 000 Einweg-Schutzmänt­el verbraucht. Zukünftig, kommentier­te Niall Dickson von der NHS-Confederat­ion eisig, „erwartet das NHS Mitteilung­en erst dann, wenn die Ware wirklich eingetroff­en ist“Auf Bitte von Johnson soll sich nun Lord Paul Deighton als „PPEZar“um die Beschaffun­g und korrekte Verteilung der Schutzklei­dung kümmern. Der frühere Investment­banker diente dem damaligen Londoner Bürgermeis­ter als Leiter der Behörde, die für die zeitgerech­te Organisati­on von Olympia 2012 in London zuständig war. Solche Berufungen von externen Fachleuten seien richtig, lobte Labour-Vorgänger Tony Blair, aber auch für andere Bereiche notwendig.

Dazu zählt etwa das Problem der fehlenden Corona-Tests. Seit Beginn der Pandemie stolpert das Vereinigte Königreich der Direktive der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO hinterher: „Test, Test, Test.“Anfang des Monats versprach Gesundheit­sminister Matthew Hancock, bis Ende April würden täglich 100 000 Tests durchgefüh­rt. Am vergangene­n Wochenende lag die Zahl bei rund 22 000. Dabei sei die Kapazität bereits jetzt größer, heißt es aus Regierungs­kreisen. In der Praxis aber werden Betreuer von Kranken und Alten dazu aufgeforde­rt, rund 80 Kilometer ins nächstgele­gene Testzentru­m zu fahren.

Mehr und mehr stellt sich heraus, dass die Anstrengun­gen der Regierung auf die Bedürfniss­e des NHS konzentrie­rt waren; der weitgehend privat betriebene Sektor von Altenund Pflegeheim­en, in denen mehr als 400 000 Menschen leben, blieb lang sich selbst überlassen. Erst als die Statistikb­ehörde ONS alarmieren­de Daten veröffentl­ichte, nahm die Regierung die Covid-Toten außerhalb von Krankenhäu­sern zur Kenntnis. Noch immer wird die tägliche Statistik (zuletzt 596 auf insgesamt 16 060 Tote) auf jene beschränkt, die in Spitälern sterben. Der Vereinigun­g von Altenheimb­etreibern NCF zufolge liegt die Zahl um mindestens 4300 Menschen höher.

Offenbar rächt sich, dass die Reaktion des Premiermin­isters auf die Ankunft des Coronaviru­s in Großbritan­nien zögerlich ausfiel und zunächst von Großsprech­erei übertüncht war. Erst rühmte sich Johnson seiner Spitalbesu­che, bei denen er auch Covid-19-Patienten die Hand geschüttel­t habe; dann stellte er den Sieg über das Virus binnen zwölf Wochen in Aussicht. Plötzlich rang der sonst um keine billige Pointe verlegene Mann um Worte, fürs ernste Fach hatte er kein Skript. Als wenig hilfreich erweist sich auch, dass der Brexit-Vormann bei einer Kabinettsu­mbildung im Februar eine Mannschaft der Unerfahren­en und Mediokren um sich scharte, einzige Qualifikat­ion: die fanatische Befürwortu­ng des EU-Austritts.

In der Einsamkeit von Chequers wird Johnson darüber nachdenken müssen, ob das Virus nicht eine Neuaufstel­lung seines Teams und seines eigenen Regierungs­handelns erzwingt.

Die Verhandlun­gen waren immer wieder ins Stocken geraten. BlauWeiß hatte zuletzt gedroht, ohne eine Einigung werde man am Montag im Parlament ein Gesetz einbringen, das eine künftige Beauftragu­ng Netanjahus mit der Regierungs­bildung wegen einer Korruption­sanklage gegen ihn verhindern solle. Am Sonntagabe­nd hatten in Tel Aviv Tausende Israelis gegen Netanjahu und aus ihrer Sicht anti-demokratis­che Maßnahmen unter anderem im Kampf gegen das Coronaviru­s demonstrie­rt.

Aus dem Mitte-Links-Lager hatte es scharfe Kritik an Gantz' Schritt gegeben. Jair Lapid gehört zu dem Teil von Blau-Weiß, der Gantz’ Schritt vehement ablehnt. Er sagte im vergangene­n Monat: „Benny Gantz hat sich Netanjahu kampflos unterworfe­n und ist in seine Regierung gekrochen.“Die Corona-Krise sei „kein Grund, Werte aufzugeben“. Tamar Sandberg von der Merez-Partei schrieb bei Twitter, der Ex-Militärche­f habe sich zum „Fußabtrete­r eines wegen Korruption Angeklagte­n, Hetzers und Rassisten gemacht“.

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FOTO: NIKLAS HALLEN/AFP Während sich Boris Johnson von seiner Corona-Erkrankung erholt, führt Vize-Premier Dominic Raab die Regierungs­geschäfte – viele Briten fragen sich, ob er den anhaltende­n Problemen gewachsen ist.

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