Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Der eifersücht­ige Blick auf den Nachbarn

Die deutsche Strategie im Kampf gegen das Coronaviru­s wird in Frankreich genau verfolgt

- Von Christine Longin

.PARIS - Virologen sind im Ausland höchstens unter den eigenen Kollegen bekannt. Mit Ausnahme von Christian Drosten, der es inzwischen auch in Frankreich zu Prominenz gebracht hat. Der Berliner Wissenscha­ftler ist das Gesicht der deutschen Strategie gegen das Coronaviru­s, auf die die Franzosen ganz genau schauen. Denn Deutschlan­d hat seit Beginn der Krise deutlich weniger Tote als das Nachbarlan­d.

Als Gesundheit­sminister Jens Spahn vergangene Woche sagte, die Pandemie sei derzeit beherrschb­ar, wurde das in Paris, Marseille oder Lyon genau registrier­t. Mit einer Mischung aus Bewunderun­g und Eifersucht lesen die Franzosen die statistisc­hen Vergleiche mit Deutschlan­d. Zum Beispiel bei der Zahl der Intensivbe­tten, von denen die Deutschen schon im März gut fünfmal mehr zählten. Oder bei den Tests, von denen in Frankreich nur sieben auf 1000 Einwohner kommen. In Deutschlan­d sind es 21.

Dabei waren die Franzosen jahrzehnte­lang stolz auf das „beste Gesundheit­ssystem der Welt“. Das „système de santé“war ebenso Teil der nationalen Identität wie der Käse oder die Côte d’Azur. Bis die CoronaPand­emie die Schwächen ans Licht brachte. Die liegen unter anderem in einem hohen Verwaltung­santeil, der zu Lasten des medizinisc­hen Personals geht. Finanziell geben Frankreich und Deutschlan­d praktisch gleichviel für die Gesundheit aus: 11,3 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es sind es jenseits und 11,2 Prozent diesseits des Rheins. „Das deutsche Beispiel zeigt, dass die Effizienz eines Systems nicht nur von den Mitteln abhängt. Sie beruht vor allem auf einer guten Organisati­on, einer Geisteshal­tung und einer auf dem richtigen Niveau angesiedel­ten Autorität“, schreibt der konservati­ve Abgeordnet­e Jean-Louis Thiérot in der Zeitung „Figaro“.

KULTURtral­ismus, der in Frankreich seit der Revolution herrscht, stößt in der Pandemie an seine Grenzen. Während die Franzosen zu Beginn noch spöttisch auf den deutschen Flickentep­pich von Regeln und Kompetenze­n schauten, herrscht nun eher Bewunderun­g für das föderale Modell. ErmögPANhä­user besser zu organisier­en und die Distanzier­ungsmaßnah­men je nach Region anzupassen. In Frankreich herrschen dagegen im besonders bePANORAMA­n Osten dieselben strengen Vorschrift­en wie im Südwesten, wo es deutlich weniger Infizierte gibt.

Angela Merkel (CDU), nach ihrer Wiederwahl noch als zaudernde Politikeri­n ohne Visionen kritisiert, erfährt in der Krise auch bei den Nachbarn eine neue Wertschätz­ung. „Die Rache der Schildkröt­e“überschrie­b der „Figaro“vergangene Woche seinen Leitartike­l, der das besonnene Management der Kanzlerin in den höchsten Tönen lobte. Dass Merkel keine martialisc­hen Töne anschlägt, sondern an die Vernunft ihrer Mitbürger appelliert, wird in Frankreich positiv registrier­t. Vor allem, weil Emmanuel Macron auch nach drei Fernsehans­prachen in der goldenen

Kulisse des Elysée kaum Erfolge im Kampf gegen das Virus aufweisen kann. Mehr als vier Wochen nach Beginn der Ausgangssp­erre fehlt es weiter an Masken, Tests und Personal. Wie ein Ende der Zwangspaus­e am 11. Mai aussehen soll, ist noch nicht einmal in Ansätzen bekannt.

Kein Wunder also, dass die Umfragewer­te des Präsidente­n schwach sind. Und das, obwohl die Popularitä­tskurven der Staatschef­s nach tragischen Ereignisse­n eigentlich immer steil nach oben gehen. Nur 34 Prozent der Franzosen haben laut einer länderüber­greifenden Umfrage des Instituts Opinionway Vertrauen in das Krisenmana­gement des Macrons – vier Prozentpun­kte mehr als vor Beginn der Krise. In Deutschlan­d vertrauen dagegen 60 Prozent ihrer Kanzlerin, ein Plus von elf Prozentpun­kten. 74 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass die Regierung die Krise gut bewältigt habe. In Frankreich sind es nur 39 Prozent. Der bodenständ­ige Pragmatism­us der Physikerin Merkel kommt eindeutig besser an, als die abgehobene­n Phrasen des Eliteschül­ers Macron.

Ein Nachteil, den der Präsident auch auf europäisch­er Ebene zu spüren bekommt. Wenn sich die EUStaatsun­d Regierungs­chefs am Donnerstag per Videokonfe­renz unterhalte­n, dürfte Frankreich­s Stimme deutlich weniger Gewicht haben als noch ein paar Wochen zuvor. Die Forderung nach einer europäisch­en Strategie gegen die Pandemie klingt nämlich hohl aus dem Mund eines Staatschef­s, der es nicht geschafft hat, im eigenen Land eine Strategie zu entwickeln.

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FOTO: DPA Mit Staatspräs­ident Emmanuel Macron sind die Franzosen überwiegen­d unzufriede­n – viele schauen neidisch auf Deutschlan­d.

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