Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Alleinsein muss nicht Einsamkeit bedeuten

Die Auseinande­rsetzung mit sich selbst kann Kreativitä­t und Konzentrat­ion fördern

- Von Angelika Mayr

BREMEN/KASSEL (dpa) - „Das Alleinsein gehört zum Menschen dazu wie alles andere auch“, sagt die Gesundheit­spsycholog­in Sonia Lippke. Manche genießen dieses Gefühl und sind sich seiner Vorteile bewusst. Andere ertragen es kaum. „Aber Angst muss es einem nicht machen“, so die Professori­n, die an der Jacobs University Bremen unterricht­et.

Heute ist das Alleinsein ein neutraler Begriff, der oft auch positiv verwendet werden kann. „Das war im 18. und 19. Jahrhunder­t anders“, sagt der Soziologe Janosch Schobin von der Universitä­t Kassel (Foto: David Wüstehube/Uni Kassel). Damals waren Wortschöpf­ungen wie „mutterseel­enallein“und Konjunktio­nen wie „ganz allein“gebräuchli­ch. Gemeint war damit: von allen geliebten Menschen verlassen, ohne sozialen Schutz. Die Einsamkeit war dagegen eher positiv. Sie bezog sich auf spirituell­e Erlebnisse oder besondere Erfahrunge­n.

„Heute hat sich das fast komplett gedreht“, sagt Schobin. „Alleinsein wird viel stärker mit Autonomiev­orstellung­en verbunden – alleine leben, selbststän­dig sein. Einsamkeit wird dagegen eher mit Mangelerfa­hrungen und dem Verlust von Autonomie assoziiert: Einsamkeit ist zu einer Art des Gefangense­ins im Alleinsein geworden.“

Neueste Forschunge­n belegen, dass ein gewisses Maß an Alleinsein uns guttut. Es fördert zum Beispiel die Kreativitä­t, die Konzentrat­ion und das Lernen.

„Man hat mehr

Zeit, sich mit sich selbst und Dingen auseinande­rzusetzen und kann so neue Ideen entwickeln“, sagt

Lippke (Foto: Jacobs University

Bremen). „Es ist also eine Art Selbstrefl­exion.“Ist man dagegen ständig mit anderen zusammen oder läuft mit der Masse mit, stellt man nur schwer fest, was einen selber ausmacht und fördert.

Durch das Alleinsein kann man sich auch selbst regulieren und vielleicht sogar etwas im Leben verbessern. Nimmt man sich vor, sportliche­r zu werden, scheitert das oft am

Alltag. „Aber im Alleinsein funktionie­rt die Selbstregu­lation besser, und zum Beispiel Rückenübun­gen können so wie geplant ausgeführt werden“, erklärt Lippke.

Indirekt kann man so auch etwas über andere lernen. Denn beim Alleinsein reflektier­t man nicht nur über sich, sondern auch über andere: „Man kann viel über andere feststelle­n, welche Eigenheite­n sie haben und wie die sich auf einen selbst übertragen“, sagt Lippke.

Ein Beispiel dafür: „In Studien wurde herausgefu­nden, dass zum Beispiel jemand, der mit Rauchern befreundet ist, eher Gefahr läuft, auch zu rauchen“, erklärt Lippke. Hört ein Freund auf, ist es wahrschein­licher, dass der Raucher selbst auch aufhört. „Andersheru­m ist es allerdings möglich, dass man selbst mit dem Rauchen aufhören will und es beim Alleinsein klappt – aber im Freundeskr­eis oder in der alten Kneipe bricht man mit dem Vorsatz.“

Aber warum mögen dann manche das Alleinsein nicht? „Man muss das Positive sehen können“, sagt Lippke. Manche sind sozial und suchen trotzdem das Alleinsein, als sozialen Detox sozusagen. Denn die vielen

Reize im Alltag können überforder­n. „Dann ist es gut, bewusst alleine zu sein. Ohne E-Mails oder Videokonfe­renzen.“

Andere empfinden genau das als belastend. Sie suchen den Austausch mit anderen Menschen, sorgen sich um die anderen oder haben Angst vor der Einsamkeit. „Hier ist die eigene Lebensphas­e oder -situation entscheide­nd und ob das Alleinesei­n selbst gewollt ist“, sagt Lippke.

Einsamkeit ist dagegen ein Frühwarnsi­gnal. „Im Leben gibt es Phasen, in denen wir uns eher einsam fühlen“, sagt Lippke. Typischerw­eise tritt das Phänomen das erste Mal auf, wenn junge Menschen von daheim ausziehen. Doch das sind kurze Momente im Leben, die vorbeigehe­n. „Wichtig ist, es wahrzunehm­en und als Impuls zu nutzen, dass man etwas ändern kann. Ein Einsiedler kann auch mal in die Stadt gehen. Er kann selbst entscheide­n, was er will.“

Nimmt man die Einsamkeit also wahr, kann man sie nutzen – indem man selbst etwas tut. „Man sollte bewusst Austausch und Begegnung suchen – ob medial vermittelt oder in Person, darauf kommt es nicht an“, sagt Lippke.

Und ab wann gleitet man in die Isolation ab? „Es gibt keine feste Definition, ab wann jemand als sozial isoliert gilt“, sagt Janosch Schobin. Nur beim Extremfall, wenn man keinerlei Kontakte und keine positiven Beziehunge­n mehr hat, sind sich die Wissenscha­ftler einig. „Das ist aber bei uns sehr selten und tritt vor allem im Kontext des Strafvollz­ugs auf.“

Im Alltag ohne Gitter sind Menschen meistens nur teilweise isoliert – also zum Beispiel von Partnern, Kindern, Freunden oder gesamtgese­llschaftli­ch abgeschnit­ten – aber fast nie von allen Gruppen zugleich. Das gilt auch in Zeiten der CoronaKris­e weiter: Schließlic­h gibt es bei aller räumlichen Distanz ja noch immer die Möglichkei­t, Kontakt mit anderen zu haben.

Wann diese Teil-Isolation trotzdem in eine negative Einsamkeit umschlägt, hängt von vielen Faktoren ab – individuel­len, situativen und kulturelle­n . „Man kann aber sagen: Fühlt sich jemand einsam, ist das bereits zu viel für diese Person.“Denn das Gefühl ist ein Zeichen: Da stimmt etwas mit meiner Einbindung in meine soziale Umwelt nicht.

Und welche Wege führen da wieder raus? Das hängt von den Gründen dieser Empfindung­en ab. „Wir begegnen ihnen ständig – etwa indem wir an unseren Beziehunge­n arbeiten, neue Beziehunge­n eingehen oder schlechte Beziehunge­n kündigen“, sagt Schobin. Komplizier­t ist es, wenn aus den Einsamkeit­sgefühlen echte, dauerhafte Vereinsamu­ng wird. „Das ist ein sich selbstvers­tärkender Teufelskre­is und es ist schwer, alleine wieder rauszukomm­en.“

Dann braucht es eigentlich Menschen, die einem eine Brücke zurück bauen. Doch was, wenn diese Menschen gerade nicht verfügbar sind – zum Beispiel, weil eine Pandemie Kontakte weitestgeh­end verbietet oder wenigstens schwierig macht?

„Auch alleine oder mit nur einer anderen Person kann man die Einsamkeit überwinden: Man braucht dazu nicht viele andere Menschen, auch wenn wir vielleicht daran gewöhnt sind“, so die Psychologi­n Lippke. „Viel wichtiger ist die Qualität der Beziehung mit dieser einen Person oder mit denjenigen, die man gerade in dem Moment nicht um sich hat.“

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FOTO: CHRISTIN KLOSE/DPA Ganz allein – nicht nur in Zeiten der Corona-Krise? Das muss nicht schlecht sein, sagen Experten.
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Sonia Lippke
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Janosch Schobin

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