Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Schwelende Radioaktivität
Seit drei Wochen brennen Wälder bei Tschernobyl – Belastete Rauchwolken ziehen durch Kiew
MOSKAU - Kiews Bewohner brauchen seit einigen Wochen starke Nerven. In der Sperrzone von Tschernobyl nordöstlich der Stadt brachen Anfang April große Waldbrände aus. In der ukrainischen Hauptstadt wurde erhöhte, aber durchaus noch zulässige Radioaktivität gemessen. Vergangenen Dienstag, die Flammen hatten sich laut Augenzeugen dem Unglücksreaktor von 1986 schon auf 200 Meter genähert, löschte ein Wolkenbruch die meisten Feuer. Wenige Tage später verhüllten neue Rauchwolken die ganze Stadt. Zum Glück kein radioaktiver Rauch, er stammte diesmal von Waldbränden aus der westlichen Nachbarregion Schytomyr. Aber am Samstag lag der Luftverschmutzungsindex mit 361 Punkten siebenmal über der zulässigen Norm, Kiew war an diesem Tag die schmutzigste Stadt der Welt.
Bei heftigem Wind flammten auch die Feuer in der Tschernobyler Sperrzone wieder auf. Am Dienstag brannten die Wälder dort schon 19 Tage, auf insgesamt 35 000 Hektar. Über 900 Feuerwehrleute sind mit rund 150 Fahrzeugen und drei Hubschraubern im Einsatz. Aber angesichts großer Trockenheit befürchten Umweltschützer, dass die Brände in den atomar verseuchten und 260 000 Hektar großen Urwäldern noch immer nicht gelöscht werden können. „Die Brandherde befinden sich oft in unzugänglichen Gehölzen, sind für Löschfahrzeuge nicht erreichbar“, sagt Ljudmila Bogun, Bloggerin und Tschernobyl-Expertin.
„Es brennt auch in der Umgebung eines Schrottplatzes für atomaren Müll.“Abgesehen von der akuten Gefahr drohen Klimawandel und wachsende menschliche Fahrlässigkeit die Waldbrände in der Sperrzone zum chronischen Problem zu machen.
Bogun sagt, abnorm stürmische Winde hätten die vergangenen Dienstag nur noch glimmenden Feuer neu entfacht. „Ein regelrechter Sandsturm tobte, und das in unseren
Breiten.“Sergij Gaschtschak vom Tschernobyl-Zentrum für Atomare Sicherheit und Radioökologie schreibt auf Facebook, die verwilderten Kiefermischwälder, aus denen die Zone zu 70 bis 80 Prozent bestehe, seien durch milde Winter mit sehr geringen Niederschlägen ausgetrocknet worden, ebenso Wasserläufe und Torfsümpfe. „Kaum irgendwo in Europa gibt es solch einen Umfang toter, hängender oder liegender Baumstämme. Eine wertvolle Komponente
für ein neu wachsendes Ökosystem, aber im dürren Zustand reiner Brennstoff.“
Nach Ansicht der Umweltschützer haben es die ewig klammen und oft korrupten Behörden versäumt, in dieser Taiga Brandschneisen anzulegen. Jetzt redet Innenminister Arsen Awakow von gezielter Brandstiftung, einer seiner Berater spekuliert auf Facebook über Provokateure, die mit dem Feuer Panik sähen wollten. Aber bei den bisher gefassten Verdächtigen
handelt es sich um Dorfeinwohner, die zu Düngezwecken Altgraswiesen abbrennen wollten. „Wegen der Quarantäne“, glaubt Sergij Mirny, Gründer und Chefökologe des Reiseunternehmens Tschernobyl Tour, „haben die Leute aus lauter Langeweile Gras angezündet.“Außerdem strömten immer mehr illegale Touristen, „Stalker“in die Sperrzone. „Früher waren die meisten Stalker Philosophen“, sagt Ljudmila Gobun, „sie betrachteten die Zone als Heiligtum.“Aber es tauchten zunehmend Idioten auf, die sich betränken, grillten, in Ruinen Diskotheken veranstalteten. „Jetzt stellen sie Videos ins Netz, auf denen das AKW Tschernobyl schon brennt“, sagt er.
Die EU hat der Ukraine Hilfe angeboten, will unter anderem die Region per Satellit überwachen, um neue Brandherde schneller zu entdecken. Aber der radioaktiv besonders verseuchte „rothaarige Wald“in der Zone ist zum Teil schon abgebrannt.
Und in Kiew wurden Cäsiumwerte von 200 Mikrobecquerel gemessen, ein noch ungefährlicher Wert, der aber die natürliche Konzentration 200-mal übersteigt. „Wir reden von Cäsium, weil es gut erforscht ist“, erklärt der Atomwissenschaftler Ivan Kovalets der Zeitung „Fakty“. Im Gegensatz zu Strontium und anderen hochaktiven Radionukliden, die viel schwieriger zu messen seien. „Cäsium hin oder her, es ist unbekannt, was hinter solch einem ungewöhnlich hohen Wert steht.“Niemand wisse, was der Rauch der Tschernobyler Waldbrände nach Kiew und anderswo tragen kann.