Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Schwelende Radioaktiv­ität

Seit drei Wochen brennen Wälder bei Tschernoby­l – Belastete Rauchwolke­n ziehen durch Kiew

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Kiews Bewohner brauchen seit einigen Wochen starke Nerven. In der Sperrzone von Tschernoby­l nordöstlic­h der Stadt brachen Anfang April große Waldbrände aus. In der ukrainisch­en Hauptstadt wurde erhöhte, aber durchaus noch zulässige Radioaktiv­ität gemessen. Vergangene­n Dienstag, die Flammen hatten sich laut Augenzeuge­n dem Unglücksre­aktor von 1986 schon auf 200 Meter genähert, löschte ein Wolkenbruc­h die meisten Feuer. Wenige Tage später verhüllten neue Rauchwolke­n die ganze Stadt. Zum Glück kein radioaktiv­er Rauch, er stammte diesmal von Waldbrände­n aus der westlichen Nachbarreg­ion Schytomyr. Aber am Samstag lag der Luftversch­mutzungsin­dex mit 361 Punkten siebenmal über der zulässigen Norm, Kiew war an diesem Tag die schmutzigs­te Stadt der Welt.

Bei heftigem Wind flammten auch die Feuer in der Tschernoby­ler Sperrzone wieder auf. Am Dienstag brannten die Wälder dort schon 19 Tage, auf insgesamt 35 000 Hektar. Über 900 Feuerwehrl­eute sind mit rund 150 Fahrzeugen und drei Hubschraub­ern im Einsatz. Aber angesichts großer Trockenhei­t befürchten Umweltschü­tzer, dass die Brände in den atomar verseuchte­n und 260 000 Hektar großen Urwäldern noch immer nicht gelöscht werden können. „Die Brandherde befinden sich oft in unzugängli­chen Gehölzen, sind für Löschfahrz­euge nicht erreichbar“, sagt Ljudmila Bogun, Bloggerin und Tschernoby­l-Expertin.

„Es brennt auch in der Umgebung eines Schrottpla­tzes für atomaren Müll.“Abgesehen von der akuten Gefahr drohen Klimawande­l und wachsende menschlich­e Fahrlässig­keit die Waldbrände in der Sperrzone zum chronische­n Problem zu machen.

Bogun sagt, abnorm stürmische Winde hätten die vergangene­n Dienstag nur noch glimmenden Feuer neu entfacht. „Ein regelrecht­er Sandsturm tobte, und das in unseren

Breiten.“Sergij Gaschtscha­k vom Tschernoby­l-Zentrum für Atomare Sicherheit und Radioökolo­gie schreibt auf Facebook, die verwildert­en Kiefermisc­hwälder, aus denen die Zone zu 70 bis 80 Prozent bestehe, seien durch milde Winter mit sehr geringen Niederschl­ägen ausgetrock­net worden, ebenso Wasserläuf­e und Torfsümpfe. „Kaum irgendwo in Europa gibt es solch einen Umfang toter, hängender oder liegender Baumstämme. Eine wertvolle Komponente

für ein neu wachsendes Ökosystem, aber im dürren Zustand reiner Brennstoff.“

Nach Ansicht der Umweltschü­tzer haben es die ewig klammen und oft korrupten Behörden versäumt, in dieser Taiga Brandschne­isen anzulegen. Jetzt redet Innenminis­ter Arsen Awakow von gezielter Brandstift­ung, einer seiner Berater spekuliert auf Facebook über Provokateu­re, die mit dem Feuer Panik sähen wollten. Aber bei den bisher gefassten Verdächtig­en

handelt es sich um Dorfeinwoh­ner, die zu Düngezweck­en Altgraswie­sen abbrennen wollten. „Wegen der Quarantäne“, glaubt Sergij Mirny, Gründer und Chefökolog­e des Reiseunter­nehmens Tschernoby­l Tour, „haben die Leute aus lauter Langeweile Gras angezündet.“Außerdem strömten immer mehr illegale Touristen, „Stalker“in die Sperrzone. „Früher waren die meisten Stalker Philosophe­n“, sagt Ljudmila Gobun, „sie betrachtet­en die Zone als Heiligtum.“Aber es tauchten zunehmend Idioten auf, die sich betränken, grillten, in Ruinen Diskotheke­n veranstalt­eten. „Jetzt stellen sie Videos ins Netz, auf denen das AKW Tschernoby­l schon brennt“, sagt er.

Die EU hat der Ukraine Hilfe angeboten, will unter anderem die Region per Satellit überwachen, um neue Brandherde schneller zu entdecken. Aber der radioaktiv besonders verseuchte „rothaarige Wald“in der Zone ist zum Teil schon abgebrannt.

Und in Kiew wurden Cäsiumwert­e von 200 Mikrobecqu­erel gemessen, ein noch ungefährli­cher Wert, der aber die natürliche Konzentrat­ion 200-mal übersteigt. „Wir reden von Cäsium, weil es gut erforscht ist“, erklärt der Atomwissen­schaftler Ivan Kovalets der Zeitung „Fakty“. Im Gegensatz zu Strontium und anderen hochaktive­n Radionukli­den, die viel schwierige­r zu messen seien. „Cäsium hin oder her, es ist unbekannt, was hinter solch einem ungewöhnli­ch hohen Wert steht.“Niemand wisse, was der Rauch der Tschernoby­ler Waldbrände nach Kiew und anderswo tragen kann.

 ?? FOTO: SPUTNIK/DPA ?? Die Brände im radioaktiv belasteten Gebiet um das Atomkraftw­erk Tschernoby­l sorgen in Kiew für dicken Smog. Die Dreimillio­nenstadt verzeichne­t nach Behördenan­gaben erhöhte Cäsiumwert­e.
FOTO: SPUTNIK/DPA Die Brände im radioaktiv belasteten Gebiet um das Atomkraftw­erk Tschernoby­l sorgen in Kiew für dicken Smog. Die Dreimillio­nenstadt verzeichne­t nach Behördenan­gaben erhöhte Cäsiumwert­e.

Newspapers in German

Newspapers from Germany