Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Virtuell fährt ein Wangener vorne mit
Johannes Herrmann durfte in der Rad-Bundesliga das Führungstrikot tragen
WANGEN (sz/tk) - Weil es in der Corona-Krise derzeit unmöglich ist, an normale Sportveranstaltungen im Freien zu denken, lassen sich viele Organisatoren etwas einfallen. Die Rad-Bundesliga macht aus einer Trainingsmöglichkeit im Winter einfach eine Rennserie – bei der Onlineplattform Zwift wird eben virtuell ein Meister ausgefahren. Ganz vorne mit dabei war im Prolog und im ersten Rennen Johannes Herrmann von der Rad-Union Wangen.
Noch strahlen die Sterne am klaren Nachthimmel über der Wüste des amerikanischen Westens. Weitab jeder Zivilisation warten 343 Radsportler auf den Start ihres Radrennens. Als der Countdown abläuft, beginnt die wilde Hatz. Auf breiten Straßen schlängelt sich das große Fahrerfeld mit Volldampf vorbei an vom Wind geformten Gesteinsformationen. Niemand trägt eine Startnummer, viele auch keinen Helm. Das Peloton passiert eine kleine Stadt, die an Las Vegas erinnert. Gleich darauf beginnt der entscheidende Anstieg des Rennens. Mit zunehmender Höhe wird die Vegetation grüner, sogar Mammutbäume säumen die Strecke.
Thomas Lienert kämpft währenddessen in seiner Wohnung in München ums – sportliche – Überleben. Der Lüfter, der direkt vor ihm steht, läuft auf Volllast. Lienerts Herzfrequenz beträgt 180, seit 15 Minuten. Seine Freundin hat er des Zimmers verwiesen, nachdem sie sich zu sehr über ihn lustig gemacht hatte.
Was diese beiden Geschichten miteinander verbindet? Eine Datenverbindung. Lienerts Leistungsmesskurbel meldet die von ihm erzeugte Leistung an seinen Computer, der sendet die Daten über das Internet an Zwift. Das ist die Onlineplattform, auf der sich seit Beginn der Corona-Krise so viele Radsportler wie nie zuvor miteinander messen. Die Mountainbiker von Centurion Vaude etwa laden regelmäßig zu gemeinsamen virtuellen Fahrten ein. Dank moderner Technik können sich die Fahrer unterhalten, sie sehen sich und die Mitstreiter als sogenannte Avatare auf den Bildschirmen. „Unsere Fahrer bleiben fit, es macht mehr Spaß, als alleine zu fahren. Und wir können auch überprüfen, ob sie sich an die Trainingspläne halten“, sagte jüngst Centurion-Vaude-Teamchef Richard Dämpfle über die virtuellen Möglichkeiten des Radsports.
Auch der Bund Deutscher Radfahrer (BDR) hat seine Bundesliga – die am höchsten klassierte Rennserie Deutschlands – pandemiebedingt auf Zwift verlegt. Lienerts 400 Watt Leistung reichen an diesem Tag nicht ganz, um seinen Avatar in der ersten Gruppe zu halten. Besser gelingt das Johannes Herrmann und Raphael Bertschinger, seinen Teamkollegen der Rad-Union Wangen. Als die kleine Gruppe ein Wild-WestKaff
passiert, beginnt auch die LiveÜbertragung des Rennens auf YouTube. Rick Zabel, Radprofi und Sohn von Erik Zabel, versucht sich als Kommentator. Aber spätestens, als das Rennen von ihm unbemerkt die Ziellinie passiert, muss er gestehen, dass dies auch für ihn Neuland ist.
Derweil beginnt Johannes Herrmann in seinem Keller langsam wieder klare Bilder zu sehen. Der ehemalige deutsche Zwift-Meister hat versucht, das lilafarbene Führungstrikot der Bundesliga, das er im Prolog gewonnen hatte, zu verteidigen. Mit Platz zwei gelingt ihm das nicht ganz, dennoch ist es streng genommen die zweitbeste Platzierung der RadUnion Wangen bei einem Bundesligarennen – eben nach dem Sieg im virtuellen Prolog.
Mit einer starken Leistung hatte sich Herrmann vergangene Woche das Führungstrikot gesichert. In der vorletzten der zehn Runden à zwei Kilometer Länge setzte sich der gebürtige Lindenberger von der Konkurrenz ab und rettete mit einem Gewaltakt einen Vorsprung von fünf Sekunden ins Ziel. Die weiteren RadUnion-Athleten Raphael Bertschinger
Johannes Herrmann über die gestiegene Bedeutung virtueller Radrennen
und Peter Clauß wurden als 15. und 75. gewertet.
Im ersten Rennen, das für die Gesamtwertung zählte, wurde Bertschinger 23., Lienert 58. und Clauß kam als 120. ins Ziel. Dennis Claßen musste das Rennen aufgrund eines Aussetzers seiner Internetverbindung – quasi die Zwift-Version eines platten Reifens – aufgeben. Die RadUnion wurde in der Teamwertung Zweiter hinter der Mannschaft vom Sportforum Büttgen.
Johannes Herrmann durfte sich noch über eine kleine Überraschung in seinem Briefkasten freuen: Das Führungstrikot der Bundesliga, wurde ihm per Post – wenn auch etwas verspätet – zugestellt. „Bisher war das nur eine lustige Alternative zum Training draußen“, sagte der RadUnion-Fahrer über das virtuelle Rennen. „Durch die Pandemie haben Zwift und ähnliche Konzepte einen riesigen Schub bekommen.“
Auf welcher Strecke das zweite Rennen ausgetragen wird, wird am Mittwoch bekannt gegeben.
„Bisher war das nur eine lustige Alternative zum Training draußen.“
Bis einschließlich 6. Mai finden die Rennen der Rad-Bundesliga jeden Samstag statt. Die LiveÜbertragungen sowie die Aufzeichnungen der Rennen gibt es auf YouTube unter: „GCA Liga powered by Müller – Die lila Logistik“.