Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Die Corona-Krise „macht uns um eine wichtige Erfahrung reicher“

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Der sommerlich warme April hat all den Menschen, welche glückliche­rweise einen Garten besitzen, schon viele sonnige Stunden darin beschert. Bei meinen Spaziergän­gen rund um Bad Waldsee sehe ich viele arbeitende Hände in den Gärten. Es wird an sechs Wochentage­n fleißig gemäht, gesägt, geharkt und gesät. Vor Corona war das vorrangig an den Samstagen der Fall. Ich denke, uns tut dieser körperlich­e Ausgleich und das Schaffen mit den eigenen Händen gut. Vieles „da draußen“wirkt noch immer so irreal. Am Montag holte uns mein Mann beim Bäcker ein Stück Kuchen und musste dafür einen Mundschutz tragen. Dieser Anblick war so unwirklich. Ich fragte mich, in welchem Film ich da gelandet bin. Vermutlich beschleich­en viele von uns manchmal ähnliche Gedanken. Um so realer wird die Welt, wenn ich die Erde in meinem Garten „begreifen“oder den offenen Boden unter meinen Füßen spüren kann. Der Trend, sich auf die eigenen vier Wände zu besinnen, das sogenannte Cocooning, existiert schon seit einigen Jahren und nimmt in diesen Zeiten weiter Fahrt auf.

Das Pendant dazu im Garten heißt: „Back to the roots“oder Selbstvers­orgung mit Gemüse und Obst aus dem eigenen Garten. Sichtbares Zeichen für diesen Trend ist das Hochbeet oder der mit viel Kreativitä­t umfunktion­ierte Balkon in Großstädte­n. Senioren finden das Hochbeet wegen des rückenscho­nenden Arbeitens ideal und jüngere Menschen, weil es irgendwie hipp ist, die eigene scharfe Chilischot­e zu ernten und den Buckel dabei nicht krumm machen zu müssen. Leider darf die Ernte im Spätsommer/Herbst höchstwahr­scheinlich noch nicht beim Grillfest in großer Runde stolz präsentier­t werden. Schade! Die Corona-Krise wird uns nicht zu 100-Prozent-Selbstvers­orgern werden lassen. Jedoch macht es uns um eine wichtige Erfahrung reicher. Vermutlich werden wir beim nächsten Einkauf im Supermarkt das Gemüse und Obst nicht mehr so kritisch beäugen und anders wertschätz­en. Die Tätigkeite­n von Menschen, die mit viel Fleiß und Kraft unsere Lebensmitt­el hegen und pflegen, bis sie erntereif sind, gehören für mich bereits jetzt zu den systemrele­vanten Berufen.

Und vielleicht erinnern wir uns in ein paar Jahren nicht nur an die negativen Seiten, sondern auch an die innere Zufriedenh­eit, die in uns entstanden ist, als wir in der Erde gebuddelt und unser eigenes, krummes Gemüse genossen haben. Sind das denn nicht die eigentlich­en glücklich machenden Basics in unserem Leben? Back to the roots!

Tina Balke, Pflanzenär­ztin

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