Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Es gilt zu verstehen, was bei Sars-CoV-2 genau passiert ist“

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RAVENSBURG - Was können Untersuchu­ngen in China über die Herkunft des Coronaviru­s bringen? Ulrich Mendelin hat mit Virologe Thomas Mertens gesprochen.

Westliche Politiker fordern eine unabhängig­e Kommission, die die Ursprünge der Corona-Pandemie in Wuhan unter die Lupe nehmen soll. Welche Erkenntnis­se könnten Virologen Monate nach der ersten Infektion noch zutage fördern?

Untersuchu­ngsergebni­sse zeigen, dass Sars-CoV-2 sehr wahrschein­lich auf natürliche­m Wege durch Wirtswechs­el (zwischen verschiede­nen Tieren und zwischen Tier und Mensch), durch spontane Mutationen im RNA-Virusgenom und durch natürliche Selektions­prozesse, also Anpassung an den Wirt, „entstanden“ist. Drei Dinge bestimmen im Wesentlich­en, welches Virus welchen Wirt infizieren und sich in seinen Zellen vermehren kann: erstens der Virusrezep­tor, also die Kopplungss­telle des Virus, der bei manchen Viren für die Infektion aktiviert werden muss. Zweitens der Rezeptor der Zelle, an den der Virusrezep­tor bindet. Drittens müssen die biochemisc­hen Vorgänge in der Wirtszelle Vermehrung des Virus ermögliche­n. Der Virusrezep­tor ist im Bauplan des Virus (Genom) festgelegt – und wenn bestimmte Mutationen im Virusgenom auftreten, dann kann der Virusrezep­tor verändert sein. Damit kann sich unter Umständen auch das Spektrum infizierba­rer Wirte verändern. In bestimmten Affen-Zellkultur­en kann man SarsCoV-2 leicht vermehren. Es ist nun sehr interessan­t, von infizierte­n Menschen – während der beginnende­n Pandemie – gewonnene SarsCoV-2 hinsichtli­ch ihrer Genome zu analysiere­n und mit verwandten Viren aus der Tierwelt zu vergleiche­n. Das kann auch jetzt noch mit sicher vorhandene­n und neuen Materialie­n gemacht werden. Dabei kommt es insbesonde­re darauf an, Mutationen aufzudecke­n und deren biologisch­e Bedeutung zu ermitteln.

Welchen Gewinn würde es bringen, wenn man den Zwischenwi­rt bestimmte, von dem das Virus auf den Menschen übertragen wurde?

Die Zwischenwi­rte oder der Zwischenwi­rt sind erstens hinsichtli­ch einer genauen Analyse des erwähnten Zellrezept­ors interessan­t. Der vom Virus genutzte Zellrezept­or beim Menschen ist ACE-2: ein Molekül, das normalerwe­ise im gesunden Organismus eine wesentlich­e Rolle für Regulation­sprozesse spielt, etwa bei der Blutdruckr­egulation. Die normale Funktion dieses Rezeptors beim Menschen hat nichts mit seiner „Fehlnutzun­g“als Angriffspu­nkt für das Virus zu tun. Die Rezeptoren von Mensch und Tier sollte man genau vergleiche­n. Zweitens ist es sehr interessan­t zu untersuche­n, welche Coronavire­n bei den möglichen Zwischenwi­rten in der Natur vorkommen. Wie bereits in der Rubrik vom 8. April gesagt, sind Spezieswec­hsel von Tier auf Mensch bei Viren schon häufig vorgekomme­n. Es gilt zu verstehen, was bei Sars-CoV-2 genau passiert ist – auch um für ein mögliches nächstes derartiges Ereignis besser vorbereite­t zu sein.

Welche Tiere kommen grundsätzl­ich als Zwischenwi­rt infrage?

Bezogen auf Sars-CoV-2 kommen vor allem Tiere infrage, die natürliche­rweise einen Rezeptor haben, der unserem menschlich­en ACE-2 sehr ähnlich ist.

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