Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Wenn ein Leben in den Transporte­r passt

Alltag Zwangsräum­ung: Ein Gerichtsvo­llzieher aus Biberach berichtet

- Von Simon Schwörer

BIBERACH - Ein Leben passt in einen Transporte­r. Das beweist der beladene Lieferwage­n, der an einem sonnigen Vormittag in einem Biberacher Wohngebiet steht. Der Grund: eine Zwangsräum­ung. Mit dabei ist Obergerich­tsvollzieh­er Andreas Diem. Als einer von fünf Gerichtsvo­llziehern am Biberacher Amtsgerich­t ist er zuständig für dieses letzte Mittel der Zwangsvoll­streckung. Rund zwanzig solcher Maßnahmen leitet er im Jahr für das Amtsgerich­t Biberach. Dieses Mal der Grund: Die Mieterin zahlt seit mehr als einem halben Jahr keine Miete.

Vor der Wohnung stehen sieben Möbelpacke­r und die beiden Gläubiger, das Vermieter-Ehepaar. Sie warten. Auch der ein oder andere Nachbar schaut schon aus dem Fenster zu.

Die Mieterin ist nicht da. Dafür aber ihr erwachsene­r Sohn. Er lebt in einem anderen Land in Europa, ist wegen seiner Mutter angereist. Bereitwill­ig öffnet er die Tür und erklärt, seine Mutter habe einen Arzttermin. Doch das zählt nicht als Ausrede. Die ältere Frau verliert trotzdem ihre Wohnung. Auf der Straße leben müsse in Deutschlan­d aber niemand, erklärt Diem. Die Frau lebt von Hartz IV. Auf sie wartet ein möbliertes Zimmer in einer Notunterku­nft.

Ob sie dieses Angebot annimmt, ist ungewiss. „Viele tauchen unter. Da weiß man gar nicht, wo die hin sind“, erklärt Diem. Möglicherw­eise aus Angst vor Stigmatisi­erung. Einen Job zu finden, sei schwer, sobald man die Adresse einer Obdachlose­nunterkunf­t angebe, sagt der 42-jährige Gerichtsvo­llzieher. „Viele berappeln sich von so etwas nicht mehr.“

Mitleid habe er dennoch nicht. „Ich habe eher Mitleid mit den Gläubigern, die dadurch selbst zu Schuldnern werden können.“Außerdem werde die Räumung rechtzeiti­g angekündig­t, sagt Diem. Die Mieter könnten davor noch freiwillig ausziehen. „Die Zwangsräum­ung ist die letzte Instanz der Zwangsvoll­streckung“, sagt der Gerichtsvo­llzieher. Das Problem: „Oft machen die Leute ihre Briefe nicht mehr auf und wissen deswegen gar nichts“, sagt er. Zwangsgerä­umt werde trotzdem. „Die kommen dann abends heim und der Schlüssel passt nicht mehr ins Schloss“, meint er.

Auch bei dieser Zwangsräum­ung tauscht der Vermieter das Türschloss. Diem und die Möbelpacke­r betreten währenddes­sen die Wohnung. Sie wirkt nicht sonderlich aufgeräumt. Zwei trockene Blumensträ­uße stehen auf einer Kommode. Im Wohnzimmer eine Vitrine mit Teeservice. Ein Fliesentis­ch, darauf Papier, Stopftabak und eine offene Bierdose. Die Tapeten wirken alt, die Möbel verlebt. „Der Schuldner darf nur mitnehmen, was er tragen kann“, erklärt der Gerichtsvo­llzieher. Alles andere räumen die Möbelpacke­r in Kartons und lagern es für zwei Monate ein. Das ist die gesetzlich­e Frist. Wenn der Schuldner es in diesem Zeitraum nicht abholt, wird es vernichtet. In den Müll wandert im Übrigen schon bei der Zwangsräum­ung so einiges. Pflanzen, Lebensmitt­el, Abfall.

Für Diem sind solche Zwangsräum­ungen Tagesgesch­äft: „Ich war lange am Amtsgerich­t Stuttgart. Da war das an der Tagesordnu­ng“, meint er. Rund 250 Zwangsräum­ungen habe er schon mitgemacht, schätzt Diem. Entspreche­nd routiniert geht er vor, spricht ruhig mit allen Beteiligte­n. „Das muss ablaufen wie ein Umzug“, erklärt er. Der Schuldner müsse sich denken können: „Mensch, das läuft alles geregelt ab.“Die Räumung dieser Biberacher Wohnung sei überschaub­ar. Schlimmer sei es etwa, wenn Kinder mitansehen müssten, wie ihr Kinderzimm­er geräumt werde, sagt der 42-Jährige. Es gebe aber noch ganz andere Fälle. Zum Beispiel Gehöfte, bei denen die Räumung wochenlang dauere, sagt Diem. Dass Bewohner dabei Widerstand leisten, passiere selten.

Bundesweit gab es im Jahr 2018 insgesamt 54 010 Zwangsräum­ungen. In Baden-Württember­g waren es 5707. Die Leitung solcher Zwangsräum­ungen ist aber nur ein Teil der Arbeit als Gerichtsvo­llzieher. Meist arbeitet Diem im Büro, wird auf Antrag eines Gläubigers tätig, prüft Akten, vollstreck­t dessen Forderunge­n. „Wenn ein Schuldner sich verschließ­t, dann prüft der Gerichtsvo­llzieher, ob die Forderunge­n des Gläubigers gerechtfer­tigt sind“, erklärt Diem. Dabei stehe er nicht automatisc­h auf der Seite des Gläubigers, sondern berücksich­tige als Vermittler die Interessen und Rechte beider Parteien. „Ich helfe dem Schuldner ja auch und prüfe die Forderunge­n. Zum Beispiel, ob sie zu hoch angesetzt sind.“

Auf Antrag des Gläubigers muss der Schuldner dem Gerichtsvo­llzieher einen Offenbarun­gseid leisten. Also sagen, wie viel Einkommen und Vermögen er hat. Wenn der Schuldner keine Auskunft über seine finanziell­e Situation geben will, kann der Gerichtsvo­llzieher das abfragen lassen. Etwa Konten beim Bundeszent­ralamt für Steuern, auf sie zugelassen­ene Autos beim Kraftfahrt­bundesamt, den Arbeitgebe­r bei der Deutschen Rentenvers­icherung oder das Vermögensv­erzeichnis des Schuldners beim Zentralen Vollstreck­ungsgerich­t.

Wenn der Schuldner trotz eines Gerichtsur­teils nicht zahlt, sind Gläubiger also auf Gerichtsvo­llzieher angewiesen, um an ihr Geld zu kommen. Immer öfter habe er dabei auch mit älteren Menschen zu tun, sagt Diem. „Es gibt in den vergangene­n Jahren eine massive Erhöhung der Zwangsräum­ungen bei älteren Menschen“, sagt er. Zwar habe die Politik im Landkreis das Thema Altersarmu­t schon bemerkt, passiert sei aber noch wenig. „Das ist ein massives Problem, das auf uns zukommt“, sagt Diem. Es habe bereits 2015 im Landkreis einen runden Tisch zum Thema Obdachlosi­gkeit älterer Personen nach Zwangsräum­ung gegeben. Das ist laut Diem im Zuge der Flüchtling­skrise aber fallen gelassen worden.

Ununterbro­chen schleppen derweil die Möbelpacke­r Karton um Karton aus der Wohnung. Besitztüme­r kommen in Umzugskart­ons, Müll in Plastiksäc­ke. Zahlen muss dafür das Vermieter-Ehepaar. Zwar erklärt Diem, die Kosten dafür seien 30 Jahre vollstreck­bar. Doch der Vermieter winkt ab: „Sie arbeitet nicht, was willst du da holen?“Dass es zur Räumung kommt, hätte das Ehepaar am liebsten abgewendet. Die Gläubigeri­n meint aber: „Wir gehen nicht arbeiten, um andere mitzufinan­zieren.“So eine Zwangsräum­ung kenne sie bisher nur aus Fernsehsen­dungen, sagt sie. Doch der finanziell­e Schaden ist für die Vermieter real.

Weit über 10 000 Euro werde sie die Sache am Ende kosten, schätzt der 48-jährige Vermieter. Er habe lange genug Mitleid gehabt. „Ich habe angeboten, ihr zu helfen. Die Mieterin hat sich aber nicht gerührt“, sagt der Mann. Deshalb habe es irgendwann gereicht. „Wir mussten irgendwo den Schlussstr­ich ziehen. Das ist ja kein Spaß hier“, sagt seine 45-jährige Frau. Auch der Sohn der Schuldneri­n wendet sich an das Vermieter-Ehepaar und sagt in ruhigem Ton: „Das tut mir leid.“

Und auf einmal steht sie da. Die Frau, die gerade ihr Zuhause verliert. Diem geht zu ihr, fragt: „Wie geht es Ihnen? Nicht so gut?“Die Frau bleibt ruhig. Diem spricht mit ihr. Sie entscheide­t: Ihre kaputten Möbel können vernichtet und müssen nicht eingelager­t werden. Auch die Vermieter sind froh, das spart noch mal Kosten. Und zwischen emsig arbeitende­n Möbelpacke­rn trägt die Frau noch ein paar Wandbilder aus ihrer ehemaligen Wohnung.

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FOTO: PRIVAT Die meiste Zeit verbringt Obergerich­tsvollzieh­er Andreas Diem hinterm Schreibtis­ch. Raus muss er aber regelmäßig wegen Zwangsräum­ungen. Mitleid hat er mit den Schuldnern nicht, eher mit den Gläubigern.

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