Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Zwischenbilanz für Schwedens Sonderweg
Zahl Infizierter und Toter sinkt – Funktioniert die laxe Anti-Corona-Strategie?
STOCKHOLM - Schwedens Sonderweg in der Coronakrise wird seit Wochen mit Misstrauen verfolgt. Sogar US-Präsident Donald Trump nannte ihn schon als Negativbeispiel. Seit Beginn der Krise ist im skandinavischen Land fast alles geöffnet geblieben. Alle Geschäfte, Schulen bis einschließlich der neunten Klasse, Kindergärten, Büros, Bars, Restaurants, Fitnessstudios, Büchereien und gar einige Kinos. Relativ lange galt die Regel von maximal 500 Menschen, die gleichzeitig zusammenkommen durften. Erst ab dem 29. März wurde die Anzahl auf 50 Personen begrenzt – was aber im Vergleich zu anderen EU-Staaten weiterhin sehr großzügig ist. Dies und ein Besuchsverbot in Altenheimen sind die einzigen Verbote, die in Schweden gelten.
Ansonsten setzt das Land auf Freiwilligkeit und das Verantwortungsbewusstsein seiner Bürger. Händewaschen, Abstand halten, Daheimbleiben, wenn man sich auch nur leicht krank fühlt oder einer Risikogruppe angehört, so lauten die dringenden Empfehlungen. Wegen dieser vergleichsweise milden Einschränkungen ist die Binnennachfrage in Schweden beispielsweise im Einzelhandel nicht so stark eingebrochen wie in anderen Ländern.
„Schwedens Art zu reagieren kann ein zukünftiges Modell dafür sein, wie man einer Pandemie begegnet“, lobt nun sogar Michael Ryan, Nothilfedirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO. „Es herrscht die Auffassung, dass Schweden keine Kontrollmaßnahmen ergriffen und nur die Ausbreitung der Krankheit zugelassen hat. Nichts ist aber weiter von der Wahrheit entfernt“, betont er. Die Behörden hätten sich dabei aber an ihr gutes Verhältnis zu den Bürgern und deren „Selbstregulierung“verlassen, sagt der Experte. „Wenn wir eine normalisierte Lage erreichen wollen, zurück zu einer Gesellschaft, die wir nicht verschließen müssen, glaube ich, dass Schweden ein Zukunftsmodell repräsentiert“, sagt Ryan.
Schweden ist derzeit auf zwei Fronten erfolgreich. Zum einen ergeben Prognosen, dass Schweden viel schneller als andere Länder die sogenannte Herdenimmunität erreichen könnte. Der Gedanke dahinter: Wenn viele das Virus irgendwann in sich hatten und immun sind, kann es sich nicht mehr so schnell auf Risikogruppen ausbreiten. Alleine in Stockholm sollen laut einer Schätzung des schwedischen Gesundheitsamts seit Anfang Mai bis zu 26 Prozent aller Bürger durch eine zurückliegende Corona-Erkrankung immun geworden sein.
Weil schon so viele das Virus in sich gehabt hätten und nun immun seien, gingen derzeit auch die Anzahl der Neuinfizierten und Schwerkranken auf Intensivstationen zurück, sagt Staatsepidemiologe Anders Tegnell. Gleichzeitig will und wollte Schweden eine Überlastung der Gesundheitsversorgung
durch zu viele Kranke zur gleichen Zeit vermeiden. Dies ist dank Empfehlungen und schneller Verlagerung von Krankenpflegern gelungen. Die Zahl der Intensivpatienten mit der vom Virus ausgelösten Lungenkrankheit Covid-19 lag stets weit unter der Anzahl der Behandlungsplätze. Momentan verlangsamt sich auch der Anstieg der Totenzahlen. Insgesamt sind in Schweden über 2700 Menschen an Covid-19 gestorben.
Diese Zahl hat allerdings für Kritik an der schwedischen Strategie gesorgt. Denn pro Million Einwohner sind in Schweden 253,9 Menschen gestorben – dreimal so viele wie in Deutschland, aber deutlich weniger als in Frankreich, Großbritannien und Spanien, wo das öffentliche Leben stark eingeschränkt wurde. Das schwedische Gesundheitsamt sagt, die Sterblichkeitsrate könne statistisch nicht an die gewählte Strategie eines Landes gekoppelt werden. Zu viele andere Faktoren spielten ebenfalls eine Rolle. In einigen Ländern würden zudem nur Covid-19-Tote in Krankenhäusern gezählt – nicht aber jene in Altenheimen.
Im Schutz der Altenheime liegt wohl die schwedische Achillesferse in der Corona-Krise. Laut der Zeitung DN gab es in 541 schwedischen Altersheimen Fälle mit oft tödlichem Ausgang. „Es ist sehr unglücklich, dass es dort schon sehr früh eine große Ausbreitung gab“, räumt auch Vizestaatsepidemiologe Anders Wallensten ein.
Ob das auch an zu wenig scharfe Maßnahmen zum Schutz der Alten liegen könnte? WHO-Nothilfchef Ryan hält diesen Schluss für falsch. Länder mit scharfen Verboten hätten ähnliche Probleme. Er sagt: „Eine Reihe von Ländern haben dasselbe erlebt. Das muss genau untersucht werden. Unsere Alten sterben in ganz Europa“.