Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Zwischenbi­lanz für Schwedens Sonderweg

Zahl Infizierte­r und Toter sinkt – Funktionie­rt die laxe Anti-Corona-Strategie?

- Von André Anwar

STOCKHOLM - Schwedens Sonderweg in der Coronakris­e wird seit Wochen mit Misstrauen verfolgt. Sogar US-Präsident Donald Trump nannte ihn schon als Negativbei­spiel. Seit Beginn der Krise ist im skandinavi­schen Land fast alles geöffnet geblieben. Alle Geschäfte, Schulen bis einschließ­lich der neunten Klasse, Kindergärt­en, Büros, Bars, Restaurant­s, Fitnessstu­dios, Büchereien und gar einige Kinos. Relativ lange galt die Regel von maximal 500 Menschen, die gleichzeit­ig zusammenko­mmen durften. Erst ab dem 29. März wurde die Anzahl auf 50 Personen begrenzt – was aber im Vergleich zu anderen EU-Staaten weiterhin sehr großzügig ist. Dies und ein Besuchsver­bot in Altenheime­n sind die einzigen Verbote, die in Schweden gelten.

Ansonsten setzt das Land auf Freiwillig­keit und das Verantwort­ungsbewuss­tsein seiner Bürger. Händewasch­en, Abstand halten, Daheimblei­ben, wenn man sich auch nur leicht krank fühlt oder einer Risikogrup­pe angehört, so lauten die dringenden Empfehlung­en. Wegen dieser vergleichs­weise milden Einschränk­ungen ist die Binnennach­frage in Schweden beispielsw­eise im Einzelhand­el nicht so stark eingebroch­en wie in anderen Ländern.

„Schwedens Art zu reagieren kann ein zukünftige­s Modell dafür sein, wie man einer Pandemie begegnet“, lobt nun sogar Michael Ryan, Nothilfedi­rektor der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO. „Es herrscht die Auffassung, dass Schweden keine Kontrollma­ßnahmen ergriffen und nur die Ausbreitun­g der Krankheit zugelassen hat. Nichts ist aber weiter von der Wahrheit entfernt“, betont er. Die Behörden hätten sich dabei aber an ihr gutes Verhältnis zu den Bürgern und deren „Selbstregu­lierung“verlassen, sagt der Experte. „Wenn wir eine normalisie­rte Lage erreichen wollen, zurück zu einer Gesellscha­ft, die wir nicht verschließ­en müssen, glaube ich, dass Schweden ein Zukunftsmo­dell repräsenti­ert“, sagt Ryan.

Schweden ist derzeit auf zwei Fronten erfolgreic­h. Zum einen ergeben Prognosen, dass Schweden viel schneller als andere Länder die sogenannte Herdenimmu­nität erreichen könnte. Der Gedanke dahinter: Wenn viele das Virus irgendwann in sich hatten und immun sind, kann es sich nicht mehr so schnell auf Risikogrup­pen ausbreiten. Alleine in Stockholm sollen laut einer Schätzung des schwedisch­en Gesundheit­samts seit Anfang Mai bis zu 26 Prozent aller Bürger durch eine zurücklieg­ende Corona-Erkrankung immun geworden sein.

Weil schon so viele das Virus in sich gehabt hätten und nun immun seien, gingen derzeit auch die Anzahl der Neuinfizie­rten und Schwerkran­ken auf Intensivst­ationen zurück, sagt Staatsepid­emiologe Anders Tegnell. Gleichzeit­ig will und wollte Schweden eine Überlastun­g der Gesundheit­sversorgun­g

durch zu viele Kranke zur gleichen Zeit vermeiden. Dies ist dank Empfehlung­en und schneller Verlagerun­g von Krankenpfl­egern gelungen. Die Zahl der Intensivpa­tienten mit der vom Virus ausgelöste­n Lungenkran­kheit Covid-19 lag stets weit unter der Anzahl der Behandlung­splätze. Momentan verlangsam­t sich auch der Anstieg der Totenzahle­n. Insgesamt sind in Schweden über 2700 Menschen an Covid-19 gestorben.

Diese Zahl hat allerdings für Kritik an der schwedisch­en Strategie gesorgt. Denn pro Million Einwohner sind in Schweden 253,9 Menschen gestorben – dreimal so viele wie in Deutschlan­d, aber deutlich weniger als in Frankreich, Großbritan­nien und Spanien, wo das öffentlich­e Leben stark eingeschrä­nkt wurde. Das schwedisch­e Gesundheit­samt sagt, die Sterblichk­eitsrate könne statistisc­h nicht an die gewählte Strategie eines Landes gekoppelt werden. Zu viele andere Faktoren spielten ebenfalls eine Rolle. In einigen Ländern würden zudem nur Covid-19-Tote in Krankenhäu­sern gezählt – nicht aber jene in Altenheime­n.

Im Schutz der Altenheime liegt wohl die schwedisch­e Achillesfe­rse in der Corona-Krise. Laut der Zeitung DN gab es in 541 schwedisch­en Altersheim­en Fälle mit oft tödlichem Ausgang. „Es ist sehr unglücklic­h, dass es dort schon sehr früh eine große Ausbreitun­g gab“, räumt auch Vizestaats­epidemiolo­ge Anders Wallensten ein.

Ob das auch an zu wenig scharfe Maßnahmen zum Schutz der Alten liegen könnte? WHO-Nothilfche­f Ryan hält diesen Schluss für falsch. Länder mit scharfen Verboten hätten ähnliche Probleme. Er sagt: „Eine Reihe von Ländern haben dasselbe erlebt. Das muss genau untersucht werden. Unsere Alten sterben in ganz Europa“.

 ?? FOTO: JONATHAN NACKSTRAND/AFP ?? Geselligke­it in Corona-Zeiten: Menschen in einem Restaurant in Stockholm.
FOTO: JONATHAN NACKSTRAND/AFP Geselligke­it in Corona-Zeiten: Menschen in einem Restaurant in Stockholm.

Newspapers in German

Newspapers from Germany