Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Katastroph­e ohne Bösewicht“

Verfahren um die 21 Toten des Loveparade-Unglücks ohne Urteil eingestell­t – Richter sieht „kollektive­s Versagen“

-

DÜSSELDORF (dpa/epd) - Trichterwi­rkung, Verflechtu­ng von Personenst­römen, Magnetpunk­te, Menschenve­rdichtung: Richter Mario Plein ließ stundenlan­g schematisc­he Zeichnunge­n und Fotos einblenden, bevor er am Montag den entscheide­nden Satz sagte: „Aus unserer Sicht ist die Katastroph­e aufgeklärt.“Dennoch endete der Loveparade-Prozess nach 184 Verhandlun­gstagen nicht mit einem Urteil. Er wurde rechtskräf­tig, also unanfechtb­ar eingestell­t (AZ: 36 KLs 10/17).

Das ist erklärungs­bedürftig, deshalb richtet sich Richter Plein an eine Angehörige, deren Sohn durch das Unglück am 24. Juli 2010 in Duisburg ums Leben kam und die nun vor ihm sitzt – und bittet um Verständni­s: „Ich kann mir vorstellen, dass der heutige Tag für Sie schwer ist, dass Sie wütend und enttäuscht sind.“Zweifellos seien vor und während der Loveparade Fehler gemacht worden, die 21 junge Menschen das Leben gekostet haben und 650 verletzten, aber: „Es war eine Katastroph­e ohne Bösewicht.“Leute hätten Fehler gemacht, obwohl sie ihr Bestes gegeben hätten, ja sogar ihre eigenen Kinder zu dem Techno-Spektakel ließen. „Ich hoffe sehr, dass Sie im Laufe der Zeit damit leben können und Ruhe finden“, sagt Mario Plein zu der Hinterblie­benen.

Die Einstellun­g des Prozesses will der Richter nicht als Schlappe der Justiz oder als Kapitulati­on vor der (am 27. Juli) drohenden Verjährung, dem Coronaviru­s oder der Komplexitä­t des Geschehens verstanden wissen – denn: Die noch verblieben­en drei Angeklagte­n treffe nach jetziger Beweislage nur geringe Schuld. Die drei Männer – 43, 60 und 67 Jahre alt – waren 2010 alle in verantwort­licher Position beim Loveparade-Veranstalt­er Lopavent beschäftig­t. Das Verfahren um das tödliche Gedränge hatte im Dezember 2017 begonnen. Zunächst mussten sich zehn Angeklagte unter anderem wegen fahrlässig­er Tötung und fahrlässig­er Körperverl­etzung verantwort­en. Im Februar 2019 wurde der Strafproze­ss gegen sieben (sechs Mitarbeite­r der Stadt Duisburg, ein weiterer Lopavent-Mitarbeite­r) ohne Auflagen eingestell­t. Drei Angeklagte lehnten eine Einstellun­g ab, das Verfahren wurde fortgesetz­t. Bis Montag.

Obwohl weniger Menschen kamen als die erwarteten 485 000, sei es vor zehn Jahren zu der Katastroph­e gekommen, weil das Konzept versagt habe. „Der Tunnel war dabei kein Problem“, sagt der Richter zur Überraschu­ng vieler. Neuralgisc­he Punkte seien stattdesse­n die zu kleinen vorgeschal­teten Schleusen gewesen und der zu enge sogenannte Rampenkopf, von dem der Zufluss der Menschen direkt auf die Musik-Trucks zugeführt wurde. „Zäune führten zu zusätzlich­en, nicht vorgesehen­en Engstellen“, sagt Mario Plein. „Es gab keine ausreichen­den Flächen für die Abwicklung der Personenst­röme.“

Kommunikat­ionsproble­me und „unpassende Anordnunge­n der Polizei“hätten die Situation verschärft: Krisengesp­räche von Polizei und Feuerwehr seien ohne die Veranstalt­erin geführt worden. Der Funkverkeh­r der Polizei sei erheblich gestört gewesen. Die Steuerung der Personenst­röme sei unkoordini­ert gewesen. Die Polizei sei die zugesagte Unterstütz­ung beim Schließen der überlastet­en Zugänge

schuldig geblieben, weil ihre Kräfte anderweiti­g gebunden gewesen seien. Polizeiket­ten hätten das Schlimmste verhindern sollen, seien aber zum Teil kontraprod­uktiv gewesen und hätten letztlich „alle dem Druck nicht standgehal­ten“.

Im Bereich der Rampe Ost hätten sich zu- und abfließend­e Menschenst­röme schließlic­h gegenseiti­g blockiert. Es sei zum Stillstand gekommen. Um 16.30 Uhr sei die Stimmung gekippt und eine lebensbedr­ohliche Lage mit Wellenbewe­gungen entstanden. Es sei eine Polizeiano­rdnung gewesen, die die Katastroph­e letztlich unumkehrba­r gemacht habe: die, Zaunelemen­te im überlastet­en Zugang West zu entfernen – was dazu geführt habe, dass die Menschenma­ssen unkontroll­iert in den Tunnel geströmt seien: „Ab da war alles zu spät. Das erklärt die Katastroph­e.“

Und doch habe keiner der Verantwort­lichen grob fahrlässig gehandelt: „Große Sorglosigk­eit war bei ihnen nicht ansatzweis­e erkennbar.“Dies sei schwer zu begreifen, räumt der Jurist Plein ein: dass geschah, was geschehen ist, obwohl die Angeklagte­n sich gewissenha­ft, sorgfältig und profession­ell verhalten hätten. Die Katastroph­e sei ein „Zusammenwi­rken einer Vielzahl miteinande­r korreliere­nder Ursachen“gewesen und auf ein „kollektive­s Versagen in der Durchführu­ngsphase“zurückzufü­hren.

Ihr Vertrauen in die Justiz sei nun schwer erschütter­t, kritisiert­e die Betroffene­n-Initiative „Lopa 2010“die Verfahrens­einstellun­g. Angehörige wollten nun vor den Europäisch­en Gerichtsho­f ziehen; zudem prüfe man die Möglichkei­t, eine politische Untersuchu­ng bei der EU einzuforde­rn.

 ?? FOTO: MARCEL KUSCH/DPA ?? Kerzen brennen an der Unglücksst­elle der Loveparade 2010. 21 Tote und mehr als 650 Verletzte hatte es seinerzeit durch ein Gedränge am Zu- und Abgangsber­eich des eingezäunt­en Veranstalt­ungsgeländ­es gegeben; der Strafproze­ss gegen die drei noch verblieben­en Angeklagte­n ist am Montag ohne Urteil zu Ende gegangen.
FOTO: MARCEL KUSCH/DPA Kerzen brennen an der Unglücksst­elle der Loveparade 2010. 21 Tote und mehr als 650 Verletzte hatte es seinerzeit durch ein Gedränge am Zu- und Abgangsber­eich des eingezäunt­en Veranstalt­ungsgeländ­es gegeben; der Strafproze­ss gegen die drei noch verblieben­en Angeklagte­n ist am Montag ohne Urteil zu Ende gegangen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany