Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Kein Grund zu Feiern

Vor 70 Jahren wurde der Grundstein für die EU gelegt – Von der Leyen mahnt zu Solidaritä­t, Parlament fordert Reformen

- Von Verena Schmitt-Roschmann

BRÜSSEL (dpa) - Berlin lag noch in Trümmern und die Wirtschaft Europas am Boden, doch die Kulisse an diesem Tag war prächtig. Unter dem goldenen Stuck im Pariser Salon de l’Horloge wirkte der französisc­he Außenminis­ter Robert Schuman fast schmächtig, als er in wenigen Sätzen die Zukunft Europas skizzierte: ein Zusammensc­hluss der Kohle- und Stahlindus­trie in Frankreich und Deutschlan­d, ein Zweckbündn­is der beiden großen europäisch­en Rivalen nur fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel der „Vereinigun­g der europäisch­en Nationen“.

Die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 gilt als Urzelle der Europäisch­en Union – als „Europas Zeugungsmo­ment“, wie es der niederländ­ische Historiker Luuk van Middelaar nennt. Zum 70. Jubiläum der Rede sollte nun eigentlich die Runderneue­rung der Gemeinscha­ft beginnen: die auf zwei Jahre angelegte „Konferenz zur Zukunft Europas“. Die Pandemie hat das vorerst verhindert. Aber aus Sicht des Europaparl­aments sind Reformen des „unvollende­ten Projekts“EU dringender denn je – gerade wegen der Schwierigk­eiten in der Corona-Krise.

Denn die derzeit 27 EU-Staaten verfielen zu Beginn in Krisennati­onalismus: Jeder war sich selbst der Nächste, Grenzen wurden hochgezoge­n, Exporte an EU-Partner beschränkt. Inzwischen sei die Solidaritä­t wieder erwacht, beteuert Kommission­schefin Ursula von der Leyen. „Der Corona-Schock trägt auch eine heilsame Botschaft in sich: Wer nur auf sich selber schaut, kommt nicht weit.“Doch zerteilen immer noch Schlagbäum­e den Binnenmark­t. Und weil die Krise einige Staaten viel schlimmer getroffen hat als andere, steht der Zusammenha­lt auf dem Spiel.

„Wir sehen ja, dass die EU schwach auf der Brust ist, das hat sich in der Corona-Krise gezeigt“, sagt EU-Parlaments­vizepräsid­entin Nicola Beer von der FDP. „Reformen wären jetzt die Medizin, um sie gesünder und fitter zu machen.“Schneller, agiler, bürgerfreu­ndlicher und mit einer einheitlic­hen Stimme in der Welt, so wünscht sie sich die EU.

Das Verspreche­n in der Rede des französisc­hen Außenminis­ters war weitreiche­nd. In dem nur zweiseitig­en Text sprach er von der Wahrung des Friedens und vom Beitrag Europas für die Zivilisati­on. Das Ziel war aber auch sehr handfest. „Europa lässt sich nicht auf einen Schlag herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfa­ssung“, sagte Schuman. „Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidaritä­t der Tat schaffen.“Die Zusammenle­gung der – potenziell kriegswich­tigen – Kohle- und Stahlbranc­he und ihre Unterstell­ung unter eine „Hohe Behörde“war für Frankreich der Weg zu mehr Einfluss und Wohlstand, für Deutschlan­d

der Weg zurück aus der Isolation des besiegten Kriegstrei­bers. Nur ein knappes Jahr später war die sogenannte Montanunio­n Frankreich­s, Deutschlan­ds, Italiens und der Benelux-Staaten unter Dach und Fach.

Das wirkt wie Lichtgesch­windigkeit, denkt man an heutige Endlosdeba­tten etwa über Euroreform­en oder die gemeinsame Asylpoliti­k. Aber es war nach der Tragödie des Weltkriegs wohl kein Platz für Bedenkentr­äger, und Schuman und sein Berater Jean Monnet ergriffen die Gelegenhei­t für diesen radikalen Schritt. „Ihr Timing war gut, die Methode clever, das Projekt umsetzbar und ihre Mission ganz unverhohle­n föderal“, lobt der ehemalige Europaabge­ordnete Andrew Duff.

Fragt sich, ob die monumental­e Krise der Corona-Pandemie ähnliche Kräfte entfesseln könnte: eine Neuerfindu­ng oder zumindest Generalübe­rholung der EU? Der Grünen-Europapoli­tiker Daniel Freund gibt sich zuversicht­lich: „Ich habe den Eindruck, dass sich auf mehreren Feldern derzeit Sachen bewegen. Die offensicht­lichste ist beim Geld.“

Das wirkt erstaunlic­h angesichts der ebenfalls endlosen Debatte über Euro- oder Corona-Bonds, also gemeinsame europäisch­e Schulden. Die von der Pandemie besonders getroffene­n Südländer wie Italien oder Spanien wollen sie unbedingt, die Nordländer – darunter Deutschlan­d – keinesfall­s. Von der Leyen hat die undankbare Aufgabe, einen Mittelweg zu suchen, aus dem Kreis irgendwie ein Quadrat zu machen. Oder entsteht unter dem Druck der Krise doch mehr? Mehr Europa?

Bundesfina­nzminister Olaf Scholz deutete das zuletzt an. Ohne weitere Integratio­n gehe es nicht, sagte der SPD-Politiker im Deutschlan­dfunk. Gemeinsame Aufgaben, gemeinsame Einkünfte, ein gemeinsame­r Kampf gegen Steuerdump­ing: „Wer jetzt nicht versteht, dass das praktisch der Moment ist, in dem die europäisch­e Integratio­n einen ganz entscheide­nden Schritt nach vorne machen muss, der wird auch nicht ein einziges der aktuellen Probleme lösen.“

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FOTO: MONIKA SKOLIMOWSK­A/DPA 70 Jahre nach der Schuman-Erklärung steht die EU vor ihrer vielleicht größten Herausford­erung.
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FOTO: WIKICOMMON­S Robert Schuman

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