Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Das einsame Gedenken
Wegen der Corona-Krise muss der Staatsakt ausfallen – Die fünf höchsten Repräsentanten des deutschen Staates sind unter sich
BERLIN (dpa) - Vertreter von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Diplomatisches Korps, Jugendliche aus aller Welt – insgesamt 1600 Gäste, versammelt vor dem Reichstagsgebäude zu einem Staatsakt. So hatte sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den 8. Mai, das Erinnern an das Ende von Krieg und nationalsozialistischem Terror vorgestellt. Dann kam die Corona-Krise. Am Ende wird es ein fast schon einsames Gedenken der fünf höchsten Repräsentanten des deutschen Staates. Deutschland müsse an diesem Tag allein gedenken, sagt Steinmeier später. „Aber: Wir sind nicht allein! Das ist die glückliche Botschaft des heutigen Tages!“
Um 12 Uhr fahren die gepanzerten Wagen vor der Neuen Wache am Boulevard Unter den Linden in Berlin vor. Die zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft ist weiträumig abgesperrt. Die aus den Limousinen zuerst aussteigenden Sicherheitsbeamten tragen Mundschutz, nicht so der Bundespräsident, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sowie die Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht, Wolfgang Schäuble (CDU), Dietmar Woidke (SPD) und Andreas Voßkuhle.
Steinmeier betritt den Innenraum als Letzter. Ein kurzes Zunicken – mehr geht nicht in den Zeiten von Corona. Vor der Plastik „Mutter mit totem Sohn“von Käthe Kollwitz liegen bereits fünf Kränze. Die fünf Vertreter des Staates richten die schwarz-rot-goldenen Schleifen, verharren in Stille, der Trompeter Lorenz Jansky spielt „Der gute Kamerad“. Auf dem menschenleeren
Platz davor steht das Rednerpult mit Bundesadler, an das Steinmeier schließlich tritt. „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Freunde in Europa, liebe Partner und Verbündete rund um die Welt“– so beginnt Steinmeier. Es schmerzt ihn sichtlich, dass die Angesprochenen so fern sind. „Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig“, sagte Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985. Steinmeier wollte ihn bewusst mit jenen begehen, denen Deutschland das Wiedererlangen der Freiheit nach zwölf Jahren Diktatur, die Rückkehr in die Völkerfamilie, die Einbindung in Europa verdankt.
Reden zum 8. Mai – sie können wichtige Akzente setzen, neue Orientierung geben, scharfe Kontroversen auslösen. Von Weizsäcker hat diese Erfahrung wie kein anderer mit seinem Diktum „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“gemacht. Das besondere Problem Steinmeiers: Durch den geänderten Rahmen kann er nicht 30 oder 40 Minuten reden, wie er es bei einem Staatsakt gemacht hätte. Am Ende sind es 15.
Steinmeier knüpft bewusst an von Weizsäcker an, zitiert dessen Satz vom „Tag der Befreiung“und befindet, man müsse diesen heute „neu und anders lesen“. „Damals war dieser Satz ein Meilenstein im Ringen mit unserer Vergangenheit. Heute aber muss er sich an unsere Zukunft richten. ,Befreiung’ ist nämlich niemals abgeschlossen, und sie ist nichts, was wir nur passiv erfahren, sondern sie fordert uns aktiv, jeden Tag aufs Neue.“
Der Blick in die Zukunft – darauf kommt es Steinmeier an. Sicher: Er bekennt sich zur deutschen „Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid“. Und er zieht daraus den Schluss: „Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.“