Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Forscher wollen Freiwillig­e mit Virus infizieren

Für klinische Studien fehlen aktuell die Probanden, die an Covid-19 erkrankt sind – Wissenscha­ftler machen ungewöhnli­chen Vorschlag

- Von Hannah Wagner

BERLIN (dpa) - Eine Gruppe Freiwillig­er lässt sich mit einem potenziell tödlichen Virus infizieren, um so die Menschheit schneller vor ebendiesem schützen zu können: Was klingen mag wie aus einem ScienceFic­tion-Film, schwebt den Initiatore­n der Kampagne „1Day Sooner“tatsächlic­h vor. Das Team um den US-amerikanis­chen Doktorande­n Chris Bakerlee von der Harvard University sucht Menschen, die potenziell bereit wären, gezielt an Covid-19 zu erkranken, um so die Entwicklun­g eines Impfstoffe­s zu beschleuni­gen. Mehr als 14 000 Menschen aus über 100 Ländern haben sich bereits registrier­t. Klinische Studien zur Entwicklun­g eines Impfstoffs bestehen aus mehreren Phasen. Zunächst wird der Wirkstoff unter anderem auf Verträglic­hkeit getestet, später dann auf seine Wirksamkei­t. Hierfür bekommen einige Probanden den Wirkstoff verabreich­t, eine zweite Gruppe erhält ein Placebo oder eine Standardth­erapie.

Klassische­rweise wartet man dann, bis sich genügend Probanden von alleine mit dem jeweiligen Erreger infiziert haben, um so die Wirksamkei­t des Impfstoff-Kandidaten bewerten zu können. Das Problem: Wenn ein Erreger nicht besonders verbreitet ist, können unter Umständen Zehntausen­de Studientei­lnehmer

nötig sein. Außerdem kann diese Testphase dann sehr lange dauern. Hier setzt die Überlegung von „1Day Sooner“an: Eine gezielte Infektion freiwillig­er Probanden mit dem Coronaviru­s könnte die entspreche­nde Testphase beschleuni­gen, argumentie­ren die Initiatore­n.

Doch derartige „Human Challenge Trials“– so lautet der englischsp­rachige Fachbegrif­f – sind umstritten. „Angesichts der besonderen Umstände der Pandemie befürworte­n unser Rahmenmode­ll und unsere Analyse, eine Grundlage für SarsCoV-2-Challenges zu legen“, schreibt ein Team von der Northweste­rn University in Chicago im Fachjourna­l „Science“. Die Autoren betonen aber auch, dass Risiken für Studientei­lnehmer, Personal und Dritte minimiert werden müssten. Die Initiatore­n von „1Day Sooner“verweisen auf ihrer Internetse­ite auf „Human Challenge Trials“in der Vergangenh­eit. So wurden etwa in den 1970er-Jahren Probanden in den USA gezielt mit Cholera infiziert, um die Wirksamkei­t eines Impfstoff-Kandidaten zu erproben.

„So eine Challenge-Studie wäre eine absolute Ausnahme“, betont auch Joerg Hasford, Vorsitzend­er des Arbeitskre­ises Medizinisc­her Ethik-Kommission­en in Deutschlan­d, mit Verweis auf den deutschen Wertekanon. „Weil wir in Deutschlan­d nach den Erfahrunge­n des Dritten

Reichs sehr, sehr hohe ethische und auch rechtliche Standards haben.“Die Nationalso­zialisten hatten in Konzentrat­ionslagern an Inhaftiert­en grausame medizinisc­he Experiment­e durchgefüh­rt. „In dem Augenblick, in dem wir zum Beispiel eine sehr wirksame Therapie hätten, wäre das natürlich ethisch vergleichs­weise leicht zu vertreten“, sagt Hasford.

Ein „Human Challenge Trial“zur Erprobung eines Corona-Impfstoffs ist aber ohnehin eher Zukunftsmu­sik. Nur ein geringer Teil der mehr als 100 Impfstoffp­rojekte, die derzeit weltweit laufen, werden überhaupt bereits in klinischen Studien mit Freiwillig­en erprobt.

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