Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Das Sterben bleibt real
Gefühlt gibt es wieder mehr Insekten – mit Corona hat das aber nichts zu tun
RAVENSBURG - Während die Industrieanlagen stillstehen und der Luftverkehr lahmliegt, summt und brummt es derzeit allerorts. Und wer eine Weile auf der Autobahn unterwegs war, der findet danach auf seiner Windschutzscheibe unzählige kleine schwarze Punkte. Fast scheint es, als gäbe es in diesem Frühjahr ungewöhnlich viele Insekten. Profitieren die Tiere etwa von der Ruhe des Corona-Lockdowns? Kann das angesichts des vielbeklagten Insektensterbens überhaupt sein? Ein Experte klärt auf, Entwarnung gibt er aber nicht.
„Zur Zeit fliegt tatsächlich etwas mehr als sonst“, sagt Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung. „Das liegt aber vor allem daran, dass es in diesem Jahr sehr früh sehr warm und trocken war.“Dass die Corona-Einschränkungen Auswirkungen auf die Insekten – oder das Insektensterben – hat, glaubt der Biologe aus Marktoberdorf derweil nicht. „Große Faktoren wie die Landnutzung sind ja immernoch da. Deren Veränderung über die Zeit hat den größten Einfluss auf die Insekten und daran hat sich durch Corona nichts geändert.“
Die Insekten fliegen in diesem Jahr also vielleicht ein bisschen früher, mehr sind es deshalb aber nicht. Im Gegenteil: Erst vor wenigen Wochen bestätigten Forscher in einer großangelegten Studie, dass die Insekten weniger werden. Pro Jahr sinkt die Zahl der landlebenden Insekten demnach um 0,92 Prozent. Bleibt es bei dieser Geschwindigkeit, gibt es in 75 Jahren nur noch halb so viele Insekten auf der Welt. Und nicht nur die Anzahl der Insekten – also die Biomasse –, sondern auch ihre Vielfalt nimmt ab.
Dazu tragen auch die immer häufiger auftretenden Dürreperioden und die milden Winter bei. Denn während sich Bienen und Schmetterlinge zunehmend schwertun Nahrung zu finden, profitieren Schädlinge wie der Borkenkäfer und der Buchsbaumzünsler von den milden Wintern. „Mehr Insekten sind ja nicht zwangsläufig gut“, sagt Settele dazu. „Wenn sich einzelne Arten so stark vermehren wie wir es derzeit bei diesen Schädlingen sehen, zeigt das vor allem, dass die Natur nicht im Gleichgewicht ist.“
Daran wird auch das Corona-Virus nichts ändern. „Der CoronaLockdown wird sich auf das Insektensterben wohl nicht auswirken“, sagt Settele. „Dafür müssten wir zum Beispiel grundsätzlich längerfristig Einfluss auf die Klimaerwärmung oder die Landnutzung nehmen. Um wirklich positiv Einfluss zu nehmen brauchen wir ein Umsteuern, das weit über eine kurze Episode hinausgeht und auch nicht auf einer derart bedrückenden Situation beruht wie sie die Pandemie gerade darstellt.“
Der Biologe hat deshalb eine andere Theorie, warum einige Autofahrer glauben, zurzeit wieder mehr Insekten auf ihren Windschutzscheiben zu finden. Sie ist nicht ganz ernst gemeint, ganz von der Hand zu weisen ist sie aber auch nicht. „Ich könnte mir vorstellen, dass die Leute zurzeit schneller fahren als sonst, weil die Straßen freier sind“, sagt er. „Und ab einer Geschwindigkeit von etwa 100 Stundenkilometern werden fliegende Insekten von den Autos nicht mehr verdrängt, sondern einfach richtig plattgemacht.“