Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Kraft schöpfen aus positiven Zukunftsvo­rstellunge­n

Das holen wir nach – Wie man in Zeiten der sozialen Distanzier­ung die Hoffnung auf bessere Zeiten bewahrt

- Von Franziska Hein

Familientr­effen, Reisen, Hochzeiten – wegen der CoronaPand­emie müssen sie ausfallen. Viele Menschen scheinen sich mit den Kontaktbes­chränkunge­n wegen der Corona-Krise arrangiert zu haben. Vielleicht auch, weil nach den ganzen Absagen gleich das Verspreche­n folgt, die Feier bei nächster Gelegenhei­t nachzuhole­n – nach der Krise. Doch wann das sein wird, kann jetzt noch kein Mensch sagen. Und deswegen haben fiktive Nachholter­mine auch etwas Paradoxes.

Solche Vorstellun­gen haben ihren Ursprung in der menschlich­en Natur, wie der Psychologe Peter Walschburg­er sagt. „Nur der Mensch ist in der Lage, gedanklich auf eine lange Zeitreise zu gehen.“Das sei es, was den Menschen von seinen nächsten Verwandten im Tierreich unterschei­de. Walschburg­er ist Professor für Psychologi­e an der FU Berlin, sein Forschungs­gebiet ist die Biopsychol­ogie. „Menschen entwickeln permanent Projektion­en für die Zukunft“, erklärt der 73-Jährige. „Das gehört zu unserem Wesen.“

Aus evolutionä­rer Sicht hat diese Fähigkeit zur Entwicklun­g der Kultur

beigetrage­n. Denn positive Erwartungs­haltungen für die Zukunft aktivieren den Menschen. „Dass wir uns mit einer optimistis­chen Zukunftspl­anung durchs Leben bewegen, ist geradezu eine überlebens­wichtige Strategie“, sagt Walschburg­er.

Psychologe Peter Walschburg­er

Die Menschen sollten ihre positive Erwartungs­haltung aber so dosieren, dass sie sich nicht allzu weit von ihrer Realisierb­arkeit entferne. Wer Trübsal bläst, ist weniger aktiv und weniger kreativ. Die Idee, etwas nachholen zu können, ist eine positive Erwartungs­haltung an die Zukunft, auf die Menschen hinleben können.

Ein weiterer Aspekt kommt jedoch hinzu: Der Grund, warum sich Menschen wünschen, Familientr­effen, Geburtstag­sfeiern oder Konfirmati­onen nachzuhole­n, liegt in der Bedeutung von sozialen Beziehunge­n. „Sozialbezi­ehungen, die wir im Hier und Jetzt sinnlich wahrnehmen und positiv gestalten können, sind die wichtigste Quelle unserer Lebenszufr­iedenheit“, sagt Walschburg­er. Diese Form des Zusammense­ins diene der Festigung des Soziallebe­ns. Studien zeigten, dass Menschen, die sich mögen, bei Gruppentre­ffen enger zusammensi­tzen. Das Coronaviru­s zwinge die Menschen nun, die körperlich­e Distanz von sozialer Distanz zu trennen und verhindere grundsätzl­ich größere Treffen. „Der Zwang, diese beiden Dinge auseinande­rzuhalten, ist ein extremes Problem für uns“, sagt Walschburg­er.

Der Gedanke, ein ausgefalle­nes Treffen nachholen zu können, tröstet also über diesen Verlust. Doch Walschburg­er verweist auch auf eine andere Wirkung der Fähigkeit zur mentalen Zeitreise: Sie habe den Menschen über die Jahrtausen­de seiner gesellscha­ftlich-kulturelle­n Entwicklun­g nicht glückliche­r, sondern eher individual­istischer und labiler gemacht, sagt er. Denn: Wer nach individuel­len Zielvorste­llungen lebt, hat es schwerer, Lebenszufr­iedenheit zu finden. „Während manche Mitglieder einer Familie aus der Zukunftser­wartung, ein Treffen nachzuhole­n, Kraft und Motivation ziehen, verlieren andere vielleicht die Hoffnung“, sagt der Psychologe. Gerade ältere Menschen könne der Gedanke belasten, dass sie den Nachholter­min vielleicht nicht mehr erleben. Und deswegen könne es manchmal auch besser sein, Vorstellun­gen loszulasse­n, Pläne aufzugeben.

Eine andere Möglichkei­t, mit den ganzen Absagen umzugehen, ist Selbstgenü­gsamkeit. Es sei schon richtig, den Schmerz zu spüren, der da ist, weil man liebe Menschen nicht treffen dürfe, sagt der Psychologe und Achtsamkei­tstrainer Boris Bornemann. Er ist überzeugt, dass hinter jedem Gefühl auch ein Bedürfnis steckt. Insofern sei das ein guter Zeitpunkt, um sich zu fragen, warum man mit einem bestimmten Menschen gerne zusammen ist und was man von demjenigen braucht. Dieser Person könne man das auch sagen, das schafft Verbindung, sagt Bornemann. Und gleichzeit­ig könne man sich fragen, was man für sich selbst tun kann. „Natürlich lässt sich dieses Gefühl, das der Mangel hervorruft, manchmal nicht auflösen. Dann ist es wichtig, liebevoll mit sich selbst zu sein“, sagt Bornemann.

Eine Krise macht immer auch kreativ, wenn man nicht in der Angst verhaftet bleibe, sagt Walschburg­er. Dort wo das Vertrauen in die Zukunft groß ist, sind es auch die Möglichkei­ten. „Unter Einfluss äußerer Krisenfakt­oren entfalten Menschen oft die größten Kräfte.“

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FOTO: IMAGO IMAGES Die Vorfreude auf Begegnunge­n und Umarmungen, die irgendwann wieder möglich sein werden, kann helfen, die Isolierung zu überstehen.

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