Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Genieße jeden Atemzug, besonders ohne „Mauldäschle“
Gerade haben wir uns an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren erinnert. Ein Ereignis, das die meisten von uns nicht mehr miterlebt haben. Ein Ereignis, das aber bei vielen noch das Leben mit geprägt hat. Ich bin ein Jahr nach Kriegsende als Kind von Vertriebenen beziehungsweise Flüchtlingen – meine Eltern waren Sudetendeutsche – in Ludwigsburg bei Stuttgart geboren. Erinnerungen an die ersten Jahre habe ich nicht, aber ich weiß aus Erzählungen, wie schwierig diese Zeit gewesen sein muss.
In meinem Leben habe ich keinen Krieg erlebt, aber wie viel unheilvolle Jahre, wie viel Leid erlitten die Generationen vor uns. Manche Biografien mussten zwei Weltkriege und die Jahre danach mit Hunger und Elend erdulden. Wir können uns wirklich glücklich schätzen und dankbar sein, in Mitteleuropa zu leben. Mit der Europäischen Union haben wir etwas Großartiges geschaffen und im Schengen Raum sind die Grenzen abgeschafft worden. Diese Freizügigkeit, die Freiheit in einer Demokratie gilt für viele Jüngere als Selbstverständlichkeit.
Warum sage ich das? Haben wir vielleicht zu sorglos gelebt? Natürlich sehen wir das tägliche Leid im nahen Osten, die Bombardierungen, überfüllte Flüchtlingslager, Tote und Verletzte oder auch Hungersnöte in Afrika. Diese Bilder kommen fast täglich in unsere Wohnzimmer, aber ich habe den Eindruck, dass wir immer weniger Empathie empfinden.
Mitte des 14. Jahrhunderts verbreitete sich der schwarze Tod über Europa und hat über 20 Millionen Tote gefordert, die Pest. Jetzt hat uns ein Virus in eine Krise gestürzt und auch etwas mit unserem Bewusstsein gemacht.
Wahrscheinlich ist der Verzicht auf einiges Liebgewonnene schwer gefallen und manchmal war es leicht. Die Besinnung auf wesentlichere Dinge, die Freude an ganz einfachen Erlebnissen, am Gesang der Vögel, an den schönen Tagen im April in seltsam wirkenden stillen Stunden, in einer Atmosphäre die nicht wie eine Apokalypse wirkte. Ein wenig Demut hat sich breitgemacht und wir haben an vielen kleinen Dingen erlebt, dass unsere Gesellschaft auch in schwierigen Zeiten funktioniert. Ich habe ganz tolle Erfahrungen machen dürfen mit einer solidarischen Nachbarschaft und ich freue mich, mit vielen Bekannten und Freunden auf die Zeit nach Corona.
Vermutlich werden wir uns alle etwas verändert haben – und ich glaube zum Positiven, mit mehr Ehrfurcht vor der Schöpfung und mit etwas mehr Bescheidenheit. Womöglich auch mit einer neuen Wertschätzung unserer Freizügigkeit und gelebten Freiheit gegenüber. Da hat unser Friedrich Schiller schon mal gesagt; „die schönsten Träume von Freiheit werden im Kerker geträumt“. Und ich sage, mit jedem Atemzug – besonders ohne „Mauldäschle“– darf man sich auf die nächsten Stunden des Er-Lebens freuen.
Wolfgang Mach, Lyriker