Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Krakeelern muss niemand zuhören

- Von Sebastian Heinrich

Die Trennlinie zwischen Meinungsst­reit und Krakeelen, sie ist in einem Video deutlich zu sehen. Es ist vor Kurzem im thüringisc­hen Gera aufgenomme­n worden, bei einer der vielen CoronaDemo­s gegen die Kontaktbes­chränkunge­n zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Darauf ist erst der 84-jährige Alfons Blum zu sehen, der wegen der Einschränk­ungen seit Wochen seine Frau im Pflegeheim nicht sehen kann. Einem ARD-Fernsehrep­orter erzählt Blum unter Tränen von der „seelischen Folter“, die das bedeute. Dann brüllt von der Seite ein anderer Mann, Blum dürfe nicht mit den öffentlich-rechtliche­n Medien reden – und redet die Krankheit Covid-19 klein. Blum entgegnet: „Man muss auch vernünftig bleiben.“

Mit Menschen wie Alfons Blum, denen die Corona-Einschränk­ungen das Leben durcheinan­dergewirbe­lt haben, die in seelischer oder wirtschaft­licher Not sind, müssen Politiker und Medien weiter sprechen, so intensiv wie möglich. Jede Einschränk­ung der Freiheitsg­rundrechte müssen die Regierunge­n in Bund und Ländern abwägen gegen das Leid, das sie bei vielen Menschen verursacht oder zumindest befördert. Die Einschränk­ungen zu lockern, sobald vernünftig­er Gesundheit­sschutz das erlaubt, das ist die Pflicht der Regierende­n.

Das Recht der Bürgerinne­n und Bürger ist es wiederum, auf die Straße zu gehen, um auf ihre Rechte zu pochen: auf die Freizügigk­eit, die Freiheit, den eigenen Betrieb zu öffnen, auf die Versammlun­gsfreiheit. Mit diesem Recht ist aber auch Verantwort­ung verbunden: Wer duldet, dass der Nebenmann oder die Nebenfrau auf der Corona-Demo die Einschränk­ungen gegen die Pandemie ernsthaft mit dem Völkermord an Europas Juden vergleicht, wer neben Menschen protestier­t, die Angela Merkel oder Markus Söder als schlimmere­s Übel als Adolf Hitler darstellen, wer antisemiti­sche oder rassistisc­he Verschwöru­ngsmärchen verbreitet – der muss auch aushalten, dass seine Mitmensche­n ihn nicht mehr als ernsthafte­n Gesprächsp­artner sehen. Sondern als verblendet­en Krakeeler. Und mit solchen Menschen zu reden, dazu ist niemand verpflicht­et.

s.heinrich@schwaebisc­he.de

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