Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Gefährlich­e Angst vor dem Virus

Weil sie sich nicht anstecken wollen, verzichten viele Menschen auf wichtige Arztbesuch­e – ein tödliches Risiko

- Von Hajo Zenker

BERLIN - Wo sind die Patienten geblieben?“Das fragt sich nicht nur Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) angesichts halbleerer Praxen und Kliniken. Das fragen sich vor allem die Ärzte quer durch Deutschlan­d. So sagt Stephan Hofmeister, Vizechef der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung (KBV): „Viele gehen vor lauter Angst vor Corona nicht mehr zum Arzt. Der Behandlung­sbedarf aber ist ja nicht verschwund­en.“

Schließlic­h sei die Hälfte der Patienten in den Praxen chronisch krank, häufig mit mehreren Leiden gleichzeit­ig. Zu normalen Zeiten seien das 800 000 bis 900 000 Patienten täglich. Wenn ein Teil davon wegen ausgelasse­ner Praxisbesu­che eine drastische Verschlech­terung des Gesundheit­szustands erleide, könne das zu einer hohen Zahl von Todesfälle­n führen – unter Umständen sogar zu einer höheren als durch die vom Coronaviru­s ausgelöste Krankheit Covid-19.

Auch die Zahl der Krebs-Vorsorgeun­tersuchung­en ist laut Stephan Hofmeister „dramatisch eingebroch­en, das macht uns Sorge, denn es ist gefährlich“. So berichtet denn auch die Deutsche Gesellscha­ft für Hämatologi­e und Medizinisc­he Onkologie, dass Krebspatie­nten „erst in sehr fortgeschr­ittenen Tumorstadi­en kommen“. Man werde deshalb mit Komplikati­onen bei den Patienten konfrontie­rt, sagt der Vorsitzend­e Professor Hermann Einsele, „die wir in den letzten Jahren eher nicht gesehen haben“.

Andersheru­m sei die Zahl der entdeckten Fälle früher Tumorstadi­en im April deutlich gesunken, in einzelnen Institutio­nen um 30 bis 50 Prozent. Was bedeutet: Menschen, die man eigentlich heilen könnte, werden nicht erkannt. Was tödlich enden kann.

Auch die Zahl der Patienten, die sich wegen Schlaganfä­llen und Herzinfark­ten behandeln lassen, hat in den vergangene­n Wochen je nach Klinik zwischen zehn und 40 Prozent abgenommen. Allein im März, wo es ja erst Mitte des Monats mit der Stilllegun­g des öffentlich­en Lebens losging, sind 25 Prozent weniger Menschen mit einem Herzinfark­t ins Krankenhau­s eingeliefe­rt worden als im März 2018 und 2019. Das zeigt eine Sonderanal­yse der DAK-Gesundheit, der viertgrößt­en deutschen Krankenkas­se. Die Kasse warnt davor, aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronaviru­s bei Herzinfark­tsymptomen nicht den Notruf zu wählen. Häufige Anzeichen seien Atemnot, Schmerzen in der Brust, die oft ausstrahle­n, sowie Übelkeit und Kreislaufp­robleme – sie müssten unbedingt ernst genommen werden. Rund 300 000 Menschen in Deutschlan­d erleiden demnach jedes Jahr einen Herzinfark­t. Etwa 50 000 sterben daran. Um den Tod zu vermeiden, müssen Symptome schnell erkannt, muss der Patient dann schnell behandelt werden. Denn jede Minute der Durchblutu­ngsstörung der

Herzkranzg­efäße schädigt das Herz. Je schneller man handelt, umso mehr Herzmuskel­gewebe kann vor dem Untergang gerettet werden. Die Zeit, das Schlimmste zu verhindern, beginnt dabei ab den ersten Anzeichen

– und nicht erst dann, wenn man sich doch noch zum Arztbesuch durchgerun­gen hat.

So hatten bereits im April mehrere medizinisc­he Fachgesell­schaften, darunter die Deutsche Gesellscha­ft für Kardiologi­e, beklagt, dass „die Zahl der Krankenhau­saufnahmen von Patienten mit akuten Herzbeschw­erden vielerorts in den letzten Tagen und Wochen dramatisch zurückgega­ngen ist“. Offensicht­lich machten sich Patienten Gedanken darüber, „ob sie in diesen Tagen während der Corona-Pandemie in den Kliniken gut behandelt werden können“.

Und Patienten, die kommen, sind oft schon in einem kritischen Zustand. Ein Phänomen, das übrigens unter anderem auch in der Schweiz, Österreich oder in den USA beobachtet wurde.

Dabei müsste man eigentlich erwarten, dass in Krisenzeit­en die Infarktgef­ahr wächst. Denn die Angst, selbst mit dem Coronaviru­s angesteckt zu werden, Angehörige zu verlieren oder entlassen zu werden, sollten das Risiko von Herzinfark­ten erhöhen. Auch der Präsident der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft (DKG), Gerald Gaß, findet deutlich geringere Einweisung­en wegen Verdachts auf Herzinfark­t und Schlaganfa­ll „besorgnise­rregend“. Denn die lägen ja nicht darin begründet, „dass es weniger Verdachtsf­älle gibt, sondern darin, dass Patienten aus Angst sich gar nicht beim Rettungsdi­enst melden“. Man müsse unbedingt verhindern, „dass Angst vor dem Virus andere Krankheite­n und Todesfälle verursacht“.

Ausbleiben­de Patienten, verschoben­e Operatione­n und zuletzt deutlich niedrigere Corona-Neuinfekti­onen haben dabei nicht nur dazu geführt, dass nach einer Befragung des Ärztegewer­kschaft Marburger Bundes 57 Prozent der angestellt­en Ärzte seit Beginn der Corona-Krise im März weniger arbeiten müssen als zuvor – zehn Prozent sind sogar in Kurzarbeit.

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FOTO: FABIAN SOMMER/DPA Gähnende Leere: In vielen Krankenhäu­sern bleiben die Patienten aus.

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