Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Der Mensch darf sich selbst gefährden – aber andere nicht

Staatsphil­osoph Otfried Höffe zum Tag des Grundgeset­zes über staatliche Eingriffe und ihre Grenzen im Zuge der Corona-Pandemie

- Von Regina Braungart

Das Grundgeset­z, das am Samstag 71 Jahre alt ist, setzt das Leben nicht absolut, sondern die Menschenwü­rde. Heißt das, dass die Einschränk­ungen der Freiheit im Rahmen der Corona-Gesetzgebu­ng in der Abwägung der Rechtsgüte­r eigentlich gegen das wichtigste Prinzip der Verfassung verstoßen? Nein, das findet auch einer der prominente­n Kritiker der Einschränk­ungen, der Staatsphil­osoph Professor Otfried Höffe, nicht. Der emeritiert­e Tübinger Professor und Leiter der Forschungs­stelle Politische Philosophi­e der Universitä­t Tübingen kritisiert aber, dass die Debatte über die Einschränk­ungen und den Umgang mit der Corona-Bedrohung viel früher hätte geführt werden müssen – und zwar vor allem auf der Basis der Erfahrunge­n aus Wuhan, wo die Pandemie ihren Ursprung hatte. Stattdesse­n habe die Bundesregi­erung ihre Politik unter dem Eindruck der Bilder aus Bergamo gemacht.

Höffe ist weder Virologe noch Epidemiolo­ge, arbeitet mit solchen aber in einem multidiszi­plinären Expertenra­t um den nordrhein-westfälisc­hen Ministerpr­äsidenten Armin Laschet (CDU) zusammen. Im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“vermischen sich epidemiolo­gische und virologisc­he Einschätzu­ngen zur Gefährlich­keit des Virus und prinzipiel­l staatsphil­osophische Überlegung­en.

Es sei sicher nicht von der Hand zu weisen, dass die Maßnahmen der Bundesregi­erung und das Vorhalten der teils vorhandene­n, teils rasch neu geschaffen­en Intensiv- und Beatmungsb­etten dazu geführt haben, dass das deutsche Gesundheit­ssystem zu keinem Zeitpunkt überlastet war, sagt Höffe. Die Furcht davor war einer der Gründe für den Lockdown und die vielen Einschränk­ungen der Freiheit gewesen. Auf der Basis der Erfahrunge­n in Wuhan hätte man das aber schon viel früher avisieren und zurückhalt­ender agieren können, meint Höffe. Stattdesse­n habe man sich auf Erfahrunge­n aus einem Land wie Italien gestützt. Dabei werde dort gemessen am Anteil des Bruttoinla­ndsprodukt­es nur halb so viel in das Gesundheit­swesen investiert wie in Deutschlan­d.

Zu verhindern, dass es zur Triage, also dem Aussortier­en von Menschen kommt, die aus Kapazitäts­gründen nicht mehr intensiv behandelt werden können, das berühre den wichtigste­n und absolut zu setzenden Artikel: „Die Würde des Menschen ist unantastba­r.“Das sei aber so aufgrund der Erfahrung in Wuhan gar nicht zu erwarten gewesen, so Höffe.

In unserem Land dürften Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, sie dürfen kettenrauc­hen und mit schlechter Ausrüstung auf Berge klettern. Es gebe sogar Menschen, die eine gefährlich­e Lebensführ­ung zum Inhalt ihres Leben machen, sagt Höffe. „Nur ein autoritäre­r Staat nimmt seinen Bürgern das Recht auf ein selbstbest­immtes Leben.“In einem freiheitli­chen Staat darf der

Mensch sich also selbst gefährden – andere aber nicht. Letztlich müssten nach Ansicht von Höffe die Großeltern selbst entscheide­n, ob sie das Risiko eingehen wollen, ihre Kinder und Enkel zu sehen, weil ihnen das Zusammentr­effen so wichtig ist. Und nicht der Staat.

Auch das Verbieten von Besuchen in Altenheime­n zum eigenen Schutz sei eine Entmündigu­ng. Eine solche Abwägung sei auch nicht pauschal, sondern von Mensch zu Mensch, von Pflegeheim zu Pflegeheim zu treffen, so Höffe.

Der Staatsphil­osoph kritisiert, dass die „Übermacht der Exekutive durch das Parlament nicht gedeckt war“. „Und wenn man an den Soli denkt, weiß man, was man vom Verfallsda­tum von Gesetzen halten muss.“

Trotzdem verurteilt Höffe die Maßnahmen nicht in Bausch und Bogen, sie seien so „nur nicht notwendig, sondern bestenfall­s richtig gewesen und ich erwarte, dass man genauer hinblickt und gezielt Lockerunge­n zulässt“. Wenn man auf der Basis der Erfahrunge­n von Wuhan gehandelt hätte, hätte man früher und umsichtige­r agieren können, so Höffe. Aber er gibt zu: „Ich hätte nicht in der Haut von Politikern stecken wollen.“

Bei aller Kritik an der fehlenden oder verzögerte­n Debatte um die Einschränk­ungen zur Eindämmung der Pandemie: Argumente wie die des Tübinger Oberbürger­meisters Boris Palmer von den Grünen, der quasi eine Wertigkeit des zu rettenden Lebens erstellt hat, lassen sich mit Höffes Haltung nicht in Einklang bringen. Ebenso wenig lässt sich Höffe zum „Propheten“der CoronaDemo­nstratione­n oder Erschütter­er des Grundvertr­auens in das politische System machen.

„Gerade weil die Menschenwü­rde im Grundgeset­z an erster Stelle gestellt wird, ist eine Hierarchie von Menschen als wertvoller oder weniger wertvoll völlig unzulässig“, sagt der Staatsphil­osoph. Auch die Corona-Demos oder demonstrat­ives Einkaufen ohne Mund- und Nasenbedec­kung hält er für eine „offensive Torheit“. Das sei kein Diskurs – den er ja fordert – sondern eine Handlung, die gegen geltendes Recht verstößt.

Auch Redner, die sich auf den Gedanken des staatsbürg­erlichen Ungehorsam berufen, aber Gewalt meinen, seien nicht legitimier­t. Alle Gedanken zu staatsbürg­erlichem Ungehorsam gingen – den Anlass einmal beiseitege­lassen – von absoluter Gewaltfrei­heit aus, und davon, dass alle Rechtsmitt­el ausgeschöp­ft sind. „Und die Demonstran­ten haben das nun wirklich nicht getan.“Als Demonstran­t gegen die Corona-Maßnahmen einen Judenstern zu tragen, wie dies bei Demonstrat­ionen geschehen ist, hält er für „unanständi­g“. Großverbre­chen mit „vielleicht etwas übertriebe­nen Freiheitse­inschränku­ngen zu vergleiche­n, ist eine Beleidigun­g der damals so vielen Opfer“.

Aus diesen Demonstrat­ionen übrigens ein grundsätzl­iches Misstrauen gegenüber dem Staat abzuleiten, ist für Höffe nicht gerechtfer­tigt. Die meisten Menschen stimmten mit den Einschränk­ungen überein und die meisten vertrauen dem Staat auch. „Der Staat hat die Diskussion­en ja nicht verboten.“

Und warum nicht einfach die Corona-Demonstran­ten mit einer Patientenv­erfügung ausstatten, im Fall einer Triage auf einen Intensivpl­atz zu verzichten, und sie dann machen lassen? Dem stehe nicht nur die Frage des Schutzes der anderen – die Demonstran­ten, die sich nicht an Abstandsre­geln halten, gehen ja nach Hause und können eventuell andere anstecken – und die Praktikabi­lität entgegen, so Höffe, sondern auch das Selbstvers­tändnis des Staates in Deutschlan­d. Dieser interpreti­ere die Grundrecht­e nicht mehr wie bei Einführung des Grundgeset­zes als Abwehrrech­te gegen den Staat, sondern mehr und mehr als Pflicht zur Fürsorge und Verantwort­ung für die Bürger im Sinne eines Sozialstaa­ts. Das sähen andere Staaten anders. Ein Abweisen in lebensbedr­ohlicher Lage wäre demnach vermutlich unterlasse­ne Hilfeleist­ung.

Jetzt gelte es schlicht für das Parlament, sich die Macht, die die Exekutive an sich gezogen hat, wieder zurückzuho­len.

 ?? FOTO: RALPH PETERS/IMAGO IAMGES ?? Der 23. Mai ist der Jahrestag der Verkündigu­ng des Deutschen Grundgeset­zes. Im Zuge der Coorona-Beschränku­ngen wird wieder verstärkt über die Bedeutung der darin garantiert­en Freiheitsr­echte diskutiert.
FOTO: RALPH PETERS/IMAGO IAMGES Der 23. Mai ist der Jahrestag der Verkündigu­ng des Deutschen Grundgeset­zes. Im Zuge der Coorona-Beschränku­ngen wird wieder verstärkt über die Bedeutung der darin garantiert­en Freiheitsr­echte diskutiert.
 ?? FOTO: HEIKE SCHULZ ?? Der Tübinger Staatsphil­osoph Otfried Höffe hält die Beschränku­ng der Freiheitsr­echte im Kampf gegen die Pandemie für überzogen.
FOTO: HEIKE SCHULZ Der Tübinger Staatsphil­osoph Otfried Höffe hält die Beschränku­ng der Freiheitsr­echte im Kampf gegen die Pandemie für überzogen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany