Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
„Blutrittle“weckt große Emotionen
Blutfreitag wird trotz Corona gefeiert – Dekan begegnet zahlreichen Gläubigen
WEINGARTEN - Auf gänzlich unbekannte Art und Weise ist am Freitag der traditionelle Blutfreitag in Weingarten begangen worden. Wegen der Corona-Pandemie fand zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg kein richtiger Blutritt statt. Mehr als 2000 Reiter und ebenso viele Musikanten mussten zu Hause bleiben und die geistlichen Feierlichkeiten im Livestream im Internet mitverfolgen, der am Freitagnachmittag schon mehr als 13 000 Abrufe hatte. Derweil war das „Blutrittle“, wie Dekan und Blutreiter Ekkehard Schmid die im kleinen Rahmen stattfindende Prozession nannte, für alle Beteiligten hoch emotional.
„Für uns, die hier sein können, ist es hier oben ein wunderbarer, geradezu paradiesischer Moment“, sagte der Dekan am Ösch in Köpfingen, wo eine kleine Andacht mit dem Baindter Pfarrer Bernhard Staudacher gehalten wurde. „Und doch wissen wir, dass viele heute hier sein wollten. Wir denken in diesem Augenblick besonders an die vielen Tausend Blutreiter, die heute liebend gerne hier gewesen wären, an die vielen Musiker und vor allem an die vielen Tausend Wallfahrer von nah und fern. Sie sind nicht vergessen.“
Eine Stunde zuvor hatte der Dekan auf dem sonst so vollen und wegen Corona nun abgesperrten und menschenleeren Basilikavorplatz die Heilig-Blut-Reliquie aus den Händen von Pfarrer Nicki Schaepen aus Bad Schussenried entgegengenommen. Kaum hatte er auf seinem Schimmel die Prozession über die St.-Longinus- und Wolfegger Straße über die Maler- und Lazarettstraße in Richtung Köpfinger Straße angetreten, bildete sich ein kleines Begleitgrüppchen, welches in den folgenden Stunden immer größer wurde. Darunter war auch Festordner Albrecht Amann, der nun ausnahmsweise nicht zum Einsatz kam und bereits mehr als 40 Mal mitgeritten ist. „Ich bin überzeugter Blutreiter“, sagte er. „Das ist sehr ungewöhnlich und sehr emotional.“Und damit war er nicht allein. Immer wieder hatten sich Blutreiter am Wegesrand mit Frack, Zylinder und Standarten aufgestellt, um doch irgendwie beim „Blutrittle“mit dabei zu sein.
Doch nicht nur die Aktiven. Auch Ehemalige und Schaulustige verfolgten die Prozession von Balkonen oder Hauseingängen. Immer wieder kamen Anwohner aus ihren Häusern, fotografierten und filmten mit ihren Handys oder beteten mit. So auch der 83 Jahre alte Werner Haußmann, der mit seiner Frau Margret am Wegesrand stand. Beide hatten sich extra in Schale geworfen. Schließlich durften sie später den Gottesdienst besuchen. „Da ist viel Wehmut mit dabei“, sagt Werner Haußmann, der selbst 43 Mal mitgeritten ist. Aber man müsse es eben so nehmen, wie es komme. Das lebte auch Weingartens Gruppenführer Markus Göttner vor, der gemeinsam mit Felix Habisreutinger, dem Sprecher der Festordner, den Dekan hoch zu Ross begleitete. Er wurde zeitweise vom Blutreiter zum Blutläufer. Schon auf dem Basilikavorplatz war sein Pferd unruhig gewesen, was in der Folge nicht besser wurde – im Gegenteil. Daher stieg er für Teile der Strecke immer wieder ab und ging zu Fuß an der Seite der Reliquie.
Als diese über die Köpfinger Straße und die Kreisstraße 7949 zum Ösch kam, hatten sich dort schon zahlreiche Gläubige zur Andacht eingefunden, obwohl der neue Prozessionsweg bis zuletzt geheim gehalten wurde. Im Übrigen hatte es diesen Streckenverlauf in der Geschichte schon einmal ganz ähnlich gegeben. Im Jahr 1939 hatten die Nationalsozialisten den üblichen Prozessionsweg verboten, sodass schon damals eine Runde über Köpfingen gewählt wurde.
81 Jahre später gab nun die Corona-Pandemie den Ausschlag für die alternative Strecke. Und doch waren in der Summe rund 100 Bürger, die sich an die Abstandsregeln hielten, am Ösch mit dabei. „Es ist ein gutes Zeichen, wenn trotzdem so viele gekommen sind – gegen die Anordnungen. Denn das war immer schon der Blutritt. Er kam nie von oben, er kam immer von unten“, sagte der Dekan sichtlich erfreut. „Sonst gäbe es ihn nicht, wenn Menschen ihn nicht immer trotzdem gefeiert hätten. Auch gegen manche Vorgaben.“
Etwas diplomatischer drückte es Weingartens Oberbürgermeister Markus Ewald aus, der ebenfalls vor Ort war, da in diesem Jahr auch sämtliche Feierlichkeiten mit politischen, geistlichen und gesellschaftlichen Ehrengästen im Rathaus abgesagt worden waren. Es sei sehr schön, dass man den Blutfreitag zumindest in dieser eingeschränkten Form begehen könne. Und vielleicht habe man nun die Möglichkeit, noch mehr über den Kern der Prozession nachzudenken. Für Ewald ganz persönlich war es die erste Teilnahme am Blutfreitag nach seinem schweren Verkehrsunfall mit lebensbedrohlichen Verletzungen im Dezember 2018, weswegen er nun im Rollstuhl sitzt. „Ich bin froh, dass ich wieder mitfeiern kann“, gab er einen kleinen Einblick.
Den wollten, etwas anders, auch die Familien Elbs und Wiedemann bekommen. Daher hatten sie sich in feiner Robe mit ihrer Pferdekutsche an den Wegesrand gestellt. Da die beiden Familienväter mit den zwei Söhnen selbst immer beim Blutritt mitreiten, suchten sie nach einer Möglichkeit, anders teilzunehmen. „Der Glaube hat uns hergebracht“, sagten sie einhellig am Geburtstag der siebenjährigen Tochter Hannah. „Die Absage war schon eine herbe Enttäuschung und das hat nun richtig gutgetan.“
Wie tief der Einschnitt für einige Blutreiter tatsächlich ist, berichtete ein Ordner, der den Dekan auf seinem Weg zurück von Köpfingen über Briach und Trauben in Richtung Weingarten begleitete, namentlich aber nicht genannt werden will. Zwar sei es für ihn persönlich ein Trostpflaster, mitlaufen zu dürfen. Doch viel lieber würde er auf einem Pferd sitzen. „Es ist befremdlich, es ist schlimm. Das tut richtig weh. Aber das kann man nicht in Worte fassen. Das sind Emotionen“, schilderte er seine Gefühlslage.
Etwas nüchterner zeigte sich Festordner-Sprecher Habisreutinger, nachdem die kleine Gruppe zurück auf dem Basilikavorplatz angekommen war und es mit dem Festgottesdienst weiterging. „Es war traurig, weil die Gemeinschaft gefehlt hat, und es war doch ergreifend, dass die Flure und Menschen gesegnet wurden und spontan so viele mit gebührendem Abstand mitgepilgert sind“, sagte er, während Filmemacher Florian Bodenmüller, der eine Dokumentation über den Blutritt macht und die gesamte Strecke mitgelaufen war, noch deutlicher wurde: „Die Menschen nur im Gebet. Das hatte schon etwas. Das Feeling war einmalig. Ich hatte zwei Stunden lang Gänsehaut.“
Alle Geschichten rund um den Blutfreitag gibt es auch online unter www.schwäbische.de/blutritt