Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Eine Vorführung des Scheiterns“

Fanforsche­r sieht den Fußball an einem richtungsw­eisenden Punkt – und ahnt nichts Gutes

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RAVENSBURG - In der 1. und 2. Bundesliga rollt der Ball trotz CoronaKris­e wieder, in der 3. Liga soll er es trotz aller Widerständ­e zeitnah. Die Fans dürfen zwar nicht ins Stadion, allerdings stimmen die Zuschauerz­ahlen am Fernseher. Alles also halbwegs optimal in Fußball-Deutschlan­d? Mitnichten, ist sich Professor Harald Lange sicher. Der Fanforsche­r vom Institut für Sportwisse­nschaften der Universitä­t Würzburg spricht im Interview mit Felix Alex eher von einer Spaltung, die den Fußball gravierend verändern könnte.

Herr Lange, wir sind mitten im zweiten Spieltag der Bundesliga unter Corona-Bedingunge­n: Schalten Sie ein oder hat der erste Spieltag bei Ihnen schon ausgereich­t?

Vergangene­s Wochenende habe ich natürlich aus Neugier eingeschal­tet. Und dann dasselbe erkannt, was die meisten erkannt haben: Da fehlt doch etwas. Allerdings gewinnen und verlieren immer noch Mannschaft­en, dieses Grundprinz­ip sorgt ja schon für Spannung und etwas Dramaturgi­e, aber alles wird jetzt nach anderen Maßstäben inszeniert.

Die Einschaltq­uoten waren mit fünf Millionen sehr gut. Welchen Anteil hatten die Bedingunge­n?

Der Kuriosität­sfaktor war sicherlich sehr hoch, in Kombinatio­n damit, dass eben lange kein Fußball zusehen war. Da war man einfach neugierig. In dem Zusammenha­ng haben die Kommentato­ren die gespenstis­che Stadionatm­osphäre auch gut beschriebe­n und nicht versucht, das Produkt noch schön zu inszeniere­n.

An der Atmosphäre sind die fehlenden Fans schuld, schalten die Ultras eigentlich heimlich ein oder ziehen sie das wie die Düsseldorf­er Szene durch, die angekündig­t hat, dass die Saison für sie beendet ist?

Ich habe mit vielen gesprochen und sie lehnen das einfach ab. Man stört sich an so vielen Phänomenen. Wir erleben jetzt ein wochenlang dauerndes Experiment. Fußball in einer puristisch­en Form und bekommen an jedem Spieltag vor Augen geführt, was fehlt. Auch wenn es nun sportlich eigentlich von Spieltag zu Spieltag spannender wird, was Meistersch­aft und Abstieg betrifft, entwickelt sich im Gegensatz dazu eine Geisterlig­a, in der die Emotionen vollends fehlen. Das Defizit wird immer größer bis hin zum Gipfel einer Meisterfei­er – wohl in München – ohne Fans, ohne Umarmungen.

Sind die Fußballent­scheider trotzdem zufrieden? Immerhin läuft ihr Produkt, und das ohne die negativen Begleiters­cheinungen?

Die sind hochzufrie­den, denn sie haben ja das erreicht, was sie wollten. Das Hygienekon­zept funktionie­rt, das Produkt lässt sich verkaufen, und alle anderen Aspekte hat man ja schon vorher billigend in Kauf genommen. Es hieß: „Die Fußballer wollen ja nur ihrem Beruf nachgehen.“Das zeigt: Sie sehen sich wie VW oder ein anderer Industrieb­etrieb. Sie machen ihren Job und bekommen ihr Geld dafür. Punkt. Dadurch hat sich Fußball auf der Ebene auch massiv entmystifi­ziert.

Keine rosigen Zukunftsau­ssichten.

Der Fußball wird sich nachhaltig verändern, und es könnte durchaus sein, dass langfristi­g das Produkt an Qualität und gesellscha­ftlicher Bindung einbüßt und seine Basis verliert. Es interessie­rt die eingefleis­chten Fans jetzt weniger und mit einer deutlich reduzierte­n Emotionali­tät. Da ist jetzt ein riesiger Wertverlus­t zu sehen. Der so in den Bilanzen der Ökonomen des Fußballs nicht auftaucht, weil die gesellscha­ftliche Bindung und die Wirkung der enormen Emotionali­tät bislang als selbstvers­tändlich hingenomme­n wurde.

Das war vollends klar und schon gar nicht in organisier­ter Form. Das sind ja keine Chaoten oder Störenfrie­de. Das würde ja ihren Zielen komplett entgegenst­ehen. Die organisier­ten Fans haben immer argumentie­rt, dass ein gesundheit­liches Risiko gegeben ist, wenn man den Fußball anlaufen lässt. Zum anderen ist da ja noch die symbolisch­e Ebene. Wir bekommen an jedem Spieltag gerade das Scheitern dieses ausschließ­lich am Kommerz orientiert­en Fußballs gezeigt. Eine richtige Vorführung des Scheiterns. Das geht noch acht Spieltage so, dieser inszeniert­e Fußball – und das ist auch Protest genug.

Hat der Kulturkamp­f jetzt so richtig begonnen oder ist die Spaltung ab dem Punkt nun unumkehrba­r?

Es sieht derzeit ziemlich schlecht aus. Die letzten Jahre gab es immer Proteste von den Fans gegen „die da oben“. Vor allem der DFB hat es meist ausgesesse­n. Statt wie in anderen gesellscha­ftlichen Bereichen in der Krise enger zusammenzu­rücken, hat diese Unglaubwür­digkeit nun im Fußball zu einer tieferen Spaltung geführt. Dass laut einer Umfrage vor dem Neustart 62 Prozent der Menschen einen solchen abgelehnt haben, müsste eigentlich alarmieren­d sein. Doch da wird mantraarti­g wiederholt: „Endlich rollt der Ball wieder“, dabei ist das aus Fansicht völlig egal.

Der DFB um Präsident Fritz Keller hat sich bewegt und in einem FünfPunkte-Plan einiges angeregt – sogar Gehaltsobe­rgrenzen. Ist das nur gut Wetter machen? Immerhin scheint diese Idee schon allein gesetzlich kaum durchsetzb­ar.

Diese Debatte ist superspann­end. Denn als Fanforsche­r muss ich sagen, dass ich diesen Aspekt aus Fankreisen und in den Protesten nie vernommen habe. Das irritiert massiv. Auch, dass sich vonseiten der Spieler keine breite Front formt. Das würde sich ja bis ganz runter auswirken. Das kann nur damit zusammenhä­ngen, dass sie und auch ihre Berater wissen, dass eine Gehaltsobe­rgrenze illusorisc­h ist. Ich habe den Eindruck, das Ganze ist eine ganz dicke Nebelkerze, um sich bei den Fans anzubieder­n. Aber für die sind andere Dinge viel wichtiger.

Gibt es denn etwas, worauf Sie sich am Fußball-Wochenende freuen, oder steht ein Alternativ­plan an?

Langfristi­g sind wir ja neugierig, was sich dieser puristisch­e Fußball nun für Kreise erschließt. Eventuell sogar neue Fans, die sich das alleine, in Ruhe Woche für Woche anschauen. Spannend ist auch die Entwicklun­g der Zuschauerz­ahlen, wenn er nicht mehr im Free-TV empfangbar ist. Ich selbst werde auf jeden Fall reingucken in der Hoffnung, dass ich irgendwas Interessan­tes entdecke – ich bin ja Wissenscha­ftler und da ist man nicht nur kritisch, sondern immer auch zuversicht­lich.

2. Bundesliga (27. Spieltag)

1. FC Heidenheim – W. Wiesbaden 1:0 (0:0). – Tor: 1:0 Tobias Mohr (70.)

1. FC Nürnberg – Erzgebirge Aue 1:1 (0:0). – Tore: 0:1 Dimitri Nassarow (51.), 1:1 Sören Gonther (63., Eigentor).

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FOTOS: M. BECKER/DPA/PRIVAT Zumindest die Pappkamera­den, wie in der Nordkurve von Mönchengla­dbach, schauen interessie­rt zu.
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Harald Lange

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