Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Das Flächenfraß-Dilemma
Neuer Wohnraum wird dringend benötigt, doch verbraucht viel Grund – und der ist knapp
STUTTGART - Der Flächenfraß in Baden-Württemberg geht weiter. Insgesamt wurde im vergangenen Jahr ein Fläche so groß wie 2490 Fußballfelder neu bebaut. Einerseits hat sich der Flächenverbrauch in den vergangenen 25 Jahren mehr als halbiert. Doch seit 2019 steigen die Zahlen wieder an. Was einerseits für neuen Wohnraum sorgt, kostet andererseits Lebensraum für Tiere und Pflanzen – und Flächen für regionale Landwirtschaft.
Christian Storchs Job besteht darin, in diesem Spannungsfeld zwischen verschiedenen Interessen zu vermitteln. Er ist Flächenmanager bei der Stadt Ravensburg. Stellen wie seine fördert das Wirtschaftsministerium des Landes seit mehreren Jahren. Denn das Ziel der Landesregierung aus Grünen und CDU ist klar: der Flächenfraß soll aufhören. Stattdessen sollen zum Beispiel brachliegende Grundstücke in den Gemeinden wieder bebaut werden, neue Gebäude eher in die Höhe als in die Breite wachsen – und wenn es dann gar nicht anders geht, anderswo Ausgleichsflächen entstehen. Unter anderem hilft das Land bei der Sanierung von mit Giftstoffen belasteten Flächen oder zahlt Zuschüsse, wenn Kommunen im Ortskern bauen statt auf der grünen Wiese.
Doch die Probleme vor Ort bleiben. Das zeigt Ravensburg exemplarisch. Die Stadt wächst, der Wohnungsmarkt ist angespannt, Platz für Neubaugebiete rar. Andere boomende Standorte wie Tuttlingen kennen die Probleme. Die Forderungen der Stuttgarter Politiker nach mehr Bebauung in den sogenanten Innenbereichen umzusetzen, ist schwierig . „Innerhalb der Städte und Gemeinden sind viele Flächen im Privateigentum. Dadurch sind die Möglichkeiten der Gemeinden bei der Innenentwicklung begrenzt“, erklärt Flächenmanager Storch. Denn die Möglichkeit, die Eigentümer zum Bauen oder zum Verkauf zu zwingen, sind begrenzt. „Da wäre die Politik am Zug. Ein Gemeinderat könnte zum Beispiel Baugebote beschließen, sodass private Eigentümer ihre Flächen nach drei oder fünf Jahren bebauen müssten. Einige Gemeinden haben solche Baugebote bereits beschlossen. Allerdings fehlt Kommunen dann immer noch die Möglichkeit, Sanktionen zu verhängen. Diese müssten Bund oder Land aus meiner Sicht schaffen“, sagt Storch. Doch das Thema ist heikel, viele Kommunalpolitiker scheuen davor zurück, sich mit Eigentümern anzulegen. Deswegen ist Storchs Job derzeit zunächst einmal nur zu eruieren, wo es freie Flächen gibt. „Derzeit ist meine Aufgabe vor allen Dingen, eine Datenbank zu erstellen, um das Potenzial vorhandener Flächen zu erkunden. Danach muss die Politik dann entscheiden, ob sie auf Eigentümer zugeht, die ihre Grundstücke im Innenbereich unbebaut lassen.“
Willfried Nobel, emeritierter Professor für Siedlungsökologie, hält die Forderungen nach mehr Verdichtung in den Ortskernen außerdem gerade auf dem Land für realitätsfern: „Das ist in Gemeinden, die weniger als 20 000 Einwohner haben, kaum zu realisieren. So etwas verändert den Charakter eines Dorfes komplett und ist den Bewohnern nicht zuzumuten. Denn es geht ja immer auch um die Qualität des Wohnens.“Dennoch sieht er die Politik vor Ort in der Verantwortung: „Die Gemeinden machen von ihren Möglichkeiten auf Flächenerwerb zu wenig Gebrauch. Sie haben zum Beispiel ein Vorkaufsrecht für Grundstücke im Innenbereich, wenn diese den Eigentümer wechseln.“
Außerhalb der Gemeinden, auf der berühmten grünen Wiese, liegen die Dinge ebenso kompliziert. Denn Menschen haben sich schon immer da niedergelassen, wo sie gute Böden fanden und gute Ernten einfuhren. Wo Städte heute wachsen, verbraucht das deshalb oft besonders hochwertige Böden. „Schon heute liegt der Selbstversorgungsgrad mit den allermeisten landwirtschaftlichen Produkten in Baden-Württemberg deutlich unter 100 Prozent“, sagt Horst Wenk vom Landesbauernverband. „Je mehr Flächen verloren gehen, desto weniger regionale Lebensmittel
kommen auf den Markt.“Dabei seien diese doch gerade begehrt – bei Verbrauchern, aber auch bei der Politik, die zu Recht Klimaschäden durch über lange Strecken herbeigeschafftes Obst oder Gemüse vermeiden will. Viele Bauern selbst haben zudem keinen Einfluss darauf, was mit den von ihnen bewirtschafteten Flächen geschieht. Die allermeisten haben ihre Felder nur gepachtet – verkauft der Eigentümer, ist das Land eben weg.
Neben den Landwirten warnen auch Naturschützer vehement vor weiterem Flächenverbrauch. Sie beklagen den Verlust von Grünflächen, Ackerböden und Streuobstwiesen. „Mit jedem verlorenen Hektar gerät die Artenvielfalt in Baden-Württemberg weiter unter Druck. Immer mehr Lebensräume für Tiere und Pflanzen, aber auch Erholungsflächen für uns Menschen gehen verloren“, erklärt eine Sprecherin des Naturschutzbundes NABU. Neue Straßen oder Baugebiete zerschneiden die Lebensräume. Einzelne Bestände tauschen sich genetisch nicht mehr aus – was das Artensterben begünstigt. Auf 70 Prozent der 2019 verbrauchten Flächen entstanden Wohnungen und Häuser, zum Teil allerdings plus dazugehörige Grünflächen. Zwölf Prozent kostete der Bau neuer Straßen.
Auch wenn so viel Einigkeit über die Bedeutung des Bodens besteht, so ist er doch weniger streng geschützt als andere Ressourcen wie etwa Wasser. So müssen Regionen und Kommunen zwar bei ihren Planungen berücksichtigen, dass Flächen verbraucht werden. Doch sie können den Bodenschutz mit anderen Gütern abwägen. „Ein wirksamerer Schutz von Gebieten mit wertvollen Böden erscheint daher nur machbar, wenn sie einen höheren rechtlichen Schutzstatus bekommen – vergleichbar etwa mit Naturschutzgebieten oder Waldflächen“, so ein Sprecher von Landesumweltminister Franz Untersteller (Grüne). Zu oft unterliegt der Schutz der Flächen anderern Interessen – wie etwa dem Bedarf an Wohnungen. Doch ob daraus etwas wird, scheint derzeit fraglich. Angesichts der aktuellen Siedlungsentwicklung und der Hoheit der Kommunen in dieser Frage bestehe „derzeit nur geringen Aussichten für einen politischen Konsens“.
Grafiken zum Flächenverbrauch in der Region: www.schwäbische.de/ flaechenverbrauch