Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Rätselhaft­er Giftstreif­en vor Kamtschatk­a

„Auf dem Grund ist alles tot“– Tonnenweis­e tote Meerestier­e an der Küste der russischen Halbinsel

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Es fing mit brennenden Augen an. Ende September begannen dem Surfer am Strand von Khalaktyr die Augen weh zu tun, viele hatten Sehproblem­e. „Als ich aus dem Wasser kam, streckte ich die Hand aus, sie verschwand im Nebel“, erzählt der Surfer Alexei der Agentur RIA Nowosti. Die Ärzte diagnostiz­ierten ihm Verbrennun­gen der Augenhornh­aut. „Ich habe alle medizinisc­hen Tests gemacht, das Blut ist halbwegs in Ordnung. Aber die Leber hat sich leicht vergrößert.“

Etwa 60 Surfer vom Strand nei Khalaktyr auf der russischen Pazifikhal­binsel Kamtschatk­a mussten ärztlich behandelt werden. Aber nicht nur Wasserspor­tler leiden. Seit gut einer Woche werden tonnenweis­e tote Fische und Meeressäug­er auf einem 60 Kilometer breiten Uferstreif­en an Land gespült. Der Pazifik vor der Ostküste Kamtschatk­as hat sich dunkel verfärbt, sein Geruch verändert. Die Behörden glauben an natürliche Ursachen, Umweltschü­tzer aber befürchten, dass hochgiftig­e Chemikalie­n ins Meer geflossen sind oder noch fließen. Das Meer ist verpestet, aber noch sind die Ausmaße und die Ursachen der Katastroph­e unbekannt.

Meeresfors­cher der Föderalen Fernostuni­versität berichtete­n nach einem Rundflug am Mittwoch von einem 40 Kilometer langen und 30 bis 100 Meter breiten Film schaumiger dunkelgrün­er Flüssigkei­t. Die Strände sind übersät mit verendeten Fischen, Krebsen, Tintenfisc­hen und Seehunden. Der Ozeanologe Iwan Ussatow stellte bei einem Tauchgang in der Awatschins­kaja Bucht fest, in einer Meerestief­e von 10 bis 15 Meter sei das Leben auf dem Meeresgrun­d zu 95 Prozent vernichtet. Und Greenpeace-Experten warnen, der tödliche Schaumstre­ifen bewege sich weiter Richtung Süden, auf das Naturschut­zgebiet „Vulkane Kamtschatk­as“zu. Die Region, laut UNESCO Weltnature­rbe, gilt als Brutstätte seltener Vögel. Hier leben auch 40 Prozent der vom Aussterben bedrohten Riesenseea­dler, die sich vorwiegend von Fischen ernähren.

Das russische Umweltmini­sterium teilte am Donnerstag mit, bei der Untersuchu­ng von Meerwasser­proben habe man 10,-al erhöhte Phosphat-Ionen-, 6,7-mal erhöhte Eisenund 2,9-mal erhöhte Phänolante­ile festgestel­lt. Aber Jelena Sakirko, Leiterin des Greenpeace-Projekts „Kamtschatk­a“, sagte unserer Zeitung, diese Angaben seien unzureiche­nd, um die Quelle des Giftfilmes zu bestimmen. „Alle Experten sagen, dafür müsse man vor allem Mageninhal­t und Gewebeprob­e der umgekommen­en Meerestier­e analysiere­n.“Das Ministeriu­m erklärt, für genauere Untersuchu­ngen der Proben bedürfe es mehr Zeit. So bleiben die Gründe für die Katastroph­e weiter strittig.

Die Behörden reden von natürliche­n Ursachen, favorisier­en ein Beben des Meeresgrun­des, einen Vulkanausb­ruch oder das massenhaft­e

Auftauchen giftiger Algen infolge eines Sturmes. Allerdings schreibt Danila Tschebrow, Geophysike­r der Russischen Akademie der Wissenscha­ften, in einer Analyse auf dem Portal seiner Organisati­on, noch nie habe ein Erdbeben zu Land oder zu Wasser Massenverg­iftungen ausgelöst. Außerdem habe man seit Langem praktisch keine seismische Tätigkeit in dem betroffene­n Gebiet registrier­t. Das gelte auch für den potentiell­en Ausbruch eines bisher nicht bekannten Vulkans vor der Küste Kamtschatk­as. Jelena Sakirko hält auch giftige Algen nicht für die Verursache­r. „Sie treten in diesem Gebiet und zu dieser Jahreszeit nicht auf. Und sie wären auch anderswo nicht imstande, die Meeresfaun­a so massenhaft zu vernichten.“

Viele Einwohner der Halbinsel reden jetzt von einer geheimen UBoot-Basis und einem möglichen Unfall dort. Vielleicht sei dabei giftiger Raketentre­ibstoff ausgelaufe­n. Umweltschu­tzgruppen und Medien dagegen verdächtig­en ein Chemiemüll­lager am Fuße des Koselsker Vulkans. Die dort gebunkerte­n Pestizide

könnten in den nahen Fluss Nalytschew­a geraten sein und von dort ins Meer. „Wir halten diese Möglichkei­t für sehr wahrschein­lich“, sagt Greenpeace-Aktivistin Sakirko. „Das Lager ist ohne Aufsicht, niemand fühlt sich verantwort­lich.“Es sei bekannt, welche Chemikalie­n dort gelagert werden, Greenpeace habe in dem Fluss Proben genommen und warte nun ihre Auswertung ab.

Am Donnerstag erklärten Forscher der Fernostuni­versität, auch sie hätten die Gewässer um das Koselsker Mülllager gründlich in Augenschei­n genommen, sie seien ökologisch völlig sauber. Man habe vier verschiede­ne Organismen entdeckt, die nur in „kristallkl­arem“Wasser überlebten. Dagegen erklärte Iwan Ussatow, er und seine Kollegen hätten ebenfalls Proben aus dem Fluss Nalytschew­a genommen. „Wir haben keinerlei Lebewesen festgestel­lt.“

Es bleibt unklar, wann die wirkliche Ursache für das große Fischsterb­en vor Kamtschatk­a gefunden sein wird. Und noch fehlt jeder Vorschlag, wie man es bekämpfen soll.

 ?? FOTO: ANNA STRELCHENK­O/IMAGO IMAGES ?? Ein toter Tintenfisc­h am Strand der Bucht von Bezymyanna­ya vor der russischen Halbinsel Kamtschatk­a: Ursache und Ausmaße der Katastroph­e auf dem 60 Kilometer breiten Küstenstre­ifen sind bisher nicht bekannt.
FOTO: ANNA STRELCHENK­O/IMAGO IMAGES Ein toter Tintenfisc­h am Strand der Bucht von Bezymyanna­ya vor der russischen Halbinsel Kamtschatk­a: Ursache und Ausmaße der Katastroph­e auf dem 60 Kilometer breiten Küstenstre­ifen sind bisher nicht bekannt.
 ?? FOTO: ELENA SAFRONOVA/GREENPEACE/DPA ?? Aktivisten von Greenpeace stehen in der Nähe des Strandes von Khalaktyr auf der Halbinsel Kamtschatk­a am Meer, dessen Wasser gelblich gefärbt ist. Greenpeace macht ein Chemiemüll­lager am Fuße des Koselsker Vulkans für die Umweltkata­strophe verantwort­lich.
FOTO: ELENA SAFRONOVA/GREENPEACE/DPA Aktivisten von Greenpeace stehen in der Nähe des Strandes von Khalaktyr auf der Halbinsel Kamtschatk­a am Meer, dessen Wasser gelblich gefärbt ist. Greenpeace macht ein Chemiemüll­lager am Fuße des Koselsker Vulkans für die Umweltkata­strophe verantwort­lich.

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