Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Rätselhafter Giftstreifen vor Kamtschatka
„Auf dem Grund ist alles tot“– Tonnenweise tote Meerestiere an der Küste der russischen Halbinsel
MOSKAU - Es fing mit brennenden Augen an. Ende September begannen dem Surfer am Strand von Khalaktyr die Augen weh zu tun, viele hatten Sehprobleme. „Als ich aus dem Wasser kam, streckte ich die Hand aus, sie verschwand im Nebel“, erzählt der Surfer Alexei der Agentur RIA Nowosti. Die Ärzte diagnostizierten ihm Verbrennungen der Augenhornhaut. „Ich habe alle medizinischen Tests gemacht, das Blut ist halbwegs in Ordnung. Aber die Leber hat sich leicht vergrößert.“
Etwa 60 Surfer vom Strand nei Khalaktyr auf der russischen Pazifikhalbinsel Kamtschatka mussten ärztlich behandelt werden. Aber nicht nur Wassersportler leiden. Seit gut einer Woche werden tonnenweise tote Fische und Meeressäuger auf einem 60 Kilometer breiten Uferstreifen an Land gespült. Der Pazifik vor der Ostküste Kamtschatkas hat sich dunkel verfärbt, sein Geruch verändert. Die Behörden glauben an natürliche Ursachen, Umweltschützer aber befürchten, dass hochgiftige Chemikalien ins Meer geflossen sind oder noch fließen. Das Meer ist verpestet, aber noch sind die Ausmaße und die Ursachen der Katastrophe unbekannt.
Meeresforscher der Föderalen Fernostuniversität berichteten nach einem Rundflug am Mittwoch von einem 40 Kilometer langen und 30 bis 100 Meter breiten Film schaumiger dunkelgrüner Flüssigkeit. Die Strände sind übersät mit verendeten Fischen, Krebsen, Tintenfischen und Seehunden. Der Ozeanologe Iwan Ussatow stellte bei einem Tauchgang in der Awatschinskaja Bucht fest, in einer Meerestiefe von 10 bis 15 Meter sei das Leben auf dem Meeresgrund zu 95 Prozent vernichtet. Und Greenpeace-Experten warnen, der tödliche Schaumstreifen bewege sich weiter Richtung Süden, auf das Naturschutzgebiet „Vulkane Kamtschatkas“zu. Die Region, laut UNESCO Weltnaturerbe, gilt als Brutstätte seltener Vögel. Hier leben auch 40 Prozent der vom Aussterben bedrohten Riesenseeadler, die sich vorwiegend von Fischen ernähren.
Das russische Umweltministerium teilte am Donnerstag mit, bei der Untersuchung von Meerwasserproben habe man 10,-al erhöhte Phosphat-Ionen-, 6,7-mal erhöhte Eisenund 2,9-mal erhöhte Phänolanteile festgestellt. Aber Jelena Sakirko, Leiterin des Greenpeace-Projekts „Kamtschatka“, sagte unserer Zeitung, diese Angaben seien unzureichend, um die Quelle des Giftfilmes zu bestimmen. „Alle Experten sagen, dafür müsse man vor allem Mageninhalt und Gewebeprobe der umgekommenen Meerestiere analysieren.“Das Ministerium erklärt, für genauere Untersuchungen der Proben bedürfe es mehr Zeit. So bleiben die Gründe für die Katastrophe weiter strittig.
Die Behörden reden von natürlichen Ursachen, favorisieren ein Beben des Meeresgrundes, einen Vulkanausbruch oder das massenhafte
Auftauchen giftiger Algen infolge eines Sturmes. Allerdings schreibt Danila Tschebrow, Geophysiker der Russischen Akademie der Wissenschaften, in einer Analyse auf dem Portal seiner Organisation, noch nie habe ein Erdbeben zu Land oder zu Wasser Massenvergiftungen ausgelöst. Außerdem habe man seit Langem praktisch keine seismische Tätigkeit in dem betroffenen Gebiet registriert. Das gelte auch für den potentiellen Ausbruch eines bisher nicht bekannten Vulkans vor der Küste Kamtschatkas. Jelena Sakirko hält auch giftige Algen nicht für die Verursacher. „Sie treten in diesem Gebiet und zu dieser Jahreszeit nicht auf. Und sie wären auch anderswo nicht imstande, die Meeresfauna so massenhaft zu vernichten.“
Viele Einwohner der Halbinsel reden jetzt von einer geheimen UBoot-Basis und einem möglichen Unfall dort. Vielleicht sei dabei giftiger Raketentreibstoff ausgelaufen. Umweltschutzgruppen und Medien dagegen verdächtigen ein Chemiemülllager am Fuße des Koselsker Vulkans. Die dort gebunkerten Pestizide
könnten in den nahen Fluss Nalytschewa geraten sein und von dort ins Meer. „Wir halten diese Möglichkeit für sehr wahrscheinlich“, sagt Greenpeace-Aktivistin Sakirko. „Das Lager ist ohne Aufsicht, niemand fühlt sich verantwortlich.“Es sei bekannt, welche Chemikalien dort gelagert werden, Greenpeace habe in dem Fluss Proben genommen und warte nun ihre Auswertung ab.
Am Donnerstag erklärten Forscher der Fernostuniversität, auch sie hätten die Gewässer um das Koselsker Mülllager gründlich in Augenschein genommen, sie seien ökologisch völlig sauber. Man habe vier verschiedene Organismen entdeckt, die nur in „kristallklarem“Wasser überlebten. Dagegen erklärte Iwan Ussatow, er und seine Kollegen hätten ebenfalls Proben aus dem Fluss Nalytschewa genommen. „Wir haben keinerlei Lebewesen festgestellt.“
Es bleibt unklar, wann die wirkliche Ursache für das große Fischsterben vor Kamtschatka gefunden sein wird. Und noch fehlt jeder Vorschlag, wie man es bekämpfen soll.