Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Rosinenbomber-Pilot will wieder nach Berlin
Gail Halvorsen wird am Samstag 100 Jahre alt - Für die Kinder war er „Onkel Wackelflügel“
SAN FRANCISCO/PROVO (dpa) - Ein paar Brocken Deutsch spricht der „Candy Bomber“immer noch. „Das ist meine zweite Heimat“, sagt Gail Halvorsen mit verschmitztem Lächeln. Ob er denn seinen 100. Geburtstag gerne in Berlin feiern würde? „Natürlich“, antwortet der ehemalige US-Pilot mit breitem amerikanischen Akzent. Kurz vor seinem runden Jubiläum zeigt Halvorsen in einem Videogespräch stolz seine über 70 Jahre alte grüne Uniformjacke. Sie ist mit Orden gespickt, dazu das Große Bundesverdienstkreuz. An diesem Samstag wird der im USStaat Utah lebende RosinenbomberPilot 100 Jahre alt.
Die alte Pilotenjacke trug er noch bei seinem letzten Besuch in Berlin, mit 98 Jahren, als Ehrengast bei den Feiern zum 70. Jahrestag des Endes der Luftbrücke. Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Halvorsen zu den Piloten, die das von sowjetischen Truppen abgeriegelte West-Berlin über Monate aus der Luft versorgten. Mit fast 280 000 Flügen brachten Amerikaner, Briten und Franzosen von Juni 1948 bis Mai 1949 den mehr als zwei Millionen Einwohnern Lebensmittel und Kohle.
Und Candy – Süßkram. Es war Halvorsens Idee, während der sowjetischen Blockade Süßigkeiten für die Kinder abzuwerfen. Als erster „Candy Bomber“wurde der junge Pilot zum Symbol für die Hilfsaktion.
Die Idee kam ihm, als er eines Tages am Ende des Rollfelds auf dem früheren Flughafen Tempelhof eine Gruppe Kinder hinter einem Stacheldrahtzaun traf. „Ich hatte noch zwei Streifen Kaugummi, die sie sich in kleinen Stücken teilten“, erzählt Halvorsen. „Ich versprach ihnen, am nächsten Tag mehr Süßigkeiten abzuwerfen. Und weil ja alle paar Minuten ein Flugzeug landete, würde ich als Erkennungszeichen beim Anflug mit den Flügeln wackeln.“Von da an hatte er den Spitznamen „Onkel Wackelflügel“(Mr. Wigglywing).
Eine große Kinderschar ist auch bei seinem 100. Geburtstag dabei. Halvorsen hat fünf Kinder, 24 Enkel und 59 Urenkel. Wegen der CoronaPandemie falle eine noch größer geplante Feier, auch mit dem Besuch früherer Berliner „Kinder“, leider aus, sagt seine Tochter Denise Williams. Doch der Rosinenbomber-Pilot kann mit vielen Grußbotschaften und Geschenken rechnen.
Zuletzt besuchte Mr. Wigglywing Berlin und dortige Schüler im Mai 2019. „Er konnte den Schülern glaubhaft vermitteln, um was es damals eigentlich ging: Dass ein Amerikaner, der kurz zuvor noch Feind war, den Kindern die Hand ausstreckte“, erinnert sich eine Lehrerin.
Natürlich ging es auch um Candy. Der junge Pilot schnürte Schokoriegel und Kaugummi zu kleinen Bündeln und befestigte diese an Taschentüchern, die wie Fallschirme vom Himmel fielen. Die Aktion sprach sich im zerbombten Berlin schnell herum. „Bald warteten Hunderte Kinder auf mich“, erzählt der Luftbrücken-Veteran stolz. Auch seine Vorgesetzten bekamen Wind davon – und ließen ihn gewähren, statt den unerlaubten Alleingang zu untersagen.
Halvorsens süße Geste war beste Werbung für die Berliner Luftbrücke, sie half der deutsch-amerikanischen Freundschaft mit auf die Sprünge. Aus den USA kamen mehr und mehr Spenden, Süßes und Taschentücher. Die Kameraden des Piloten halfen mit. Mehr als 23 Tonnen
Schokolade und Bonbons warfen sie in den nächsten Monaten ab.
Im Minutentakt flogen die Maschinen mit Lebensmitteln WestBerlin an. Es war ein riesiges und auch ein riskantes Unterfangen. 31 Piloten seien dabei ums Leben gekommen, sagt Halvorsen. „Das waren schwierige Zeiten. Kurz zuvor waren wir noch Feinde, nun brachten wir den Deutschen Güter, damit sie überleben konnten.“Er selbst hatte Kameraden im Krieg verloren. „Doch es ging ja um die Kinder in Not, das sind die Anführer von morgen. Denen wollten wir alles geben. Und dabei die Freiheit West-Berlins erhalten.“
Mit Deutschland ist Halvorsen immer verbunden geblieben. Anfang der 1970er-Jahren war er vier Jahre lang Kommandant des Flughafens Tempelhof, den er als „Candy Bomber“angeflogen hatte. Nach diesem letzten Einsatz und mehr als 8000 Militär-Flugstunden setzte er sich zur Ruhe.
Doch über seine Nachkriegsmission spricht er immer noch gerne, auch vor Schulklassen in Utah. Die deutsch-amerikanische Freundschaft sei ihm „extrem wichtig“. „Das sind die beiden Anführer der freien Welt, sie müssen einfach zusammenhalten“, meint der Ex-Pilot.
Und was wünscht er sich zu seinen runden Geburtstag? „Gesundheit und noch viel Zeit mit meiner Familie“, sagt der Jubilar. Natürlich gehört auch etwas Süßes dazu. Sein Lieblings-Candy in den USA ist ein Schokoriegel mit Erdnüssen und Karamell. Und in Deutschland? „Marzipan“, so die blitzschnelle Antwort. „Dort gibt es viel bessere Süßigkeiten als bei uns“, fügt er schelmisch hinzu.
Die Corona-Pandemie hat alle Reisepläne auf Eis gelegt. Doch auch mit 100 Jahren gibt Halvorsen die Hoffnung auf einen weiteren Besuch in seiner „zweiten Heimat“nicht auf. „Es ist mein größter Wunsch, noch einmal nach Berlin zurückzukehren.“