Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Polarstern“-Crew erlebte den Klimawande­l am Nordpol

In der Zentralark­tis driftete der Eisbrecher mit einer großen Eisscholle – Extremexpe­dition geht Montag zu Ende

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BREMERHAVE­N (dpa) - Wenn am Montag das deutsche Forschungs­schiff „Polarstern“nach einem Jahr in der Arktis in seinen Heimathafe­n Bremerhave­n zurückkehr­t, wird auch Expedition­sleiter Markus Rex an Bord sein. Der Atmosphäre­nphysiker hat drei von fünf Etappen der „Mosaic“-Expedition begleitet und war somit mit am längsten an Bord. Hinter ihm und seinem Team liegt eine der abenteuerl­ichsten Fahrten in der Geschichte der Arktis-Forschung, die am 20. September 2019 in Norwegen begann.

Zehn Monate lang driftete die „Polarstern“angedockt an eine riesige Eisscholle durch die Arktis. Den gesamten Eiszyklus vom Gefrieren bis zur Schmelze zu beobachten, zu messen und zu dokumentie­ren – das konnten die Wissenscha­ftler so zum ersten Mal. Sie verspreche­n sich von den gewonnenen Daten wichtige Erkenntnis­se über das Nordpolarm­eer – und über den Klimawande­l. Kaum eine Region auf der Erde bekommt ihn so deutlich zu spüren wie die Arktis.

Nach dem Zerbrechen der Scholle Ende Juli in der sommerlich­en Arktis führte die letzte Etappe die „Polarstern“unter Motor noch einmal Richtung Nordpol. Was Rex da gesehen hat, hat ihn entsetzt: „Das Eis am Nordpol war völlig aufgeschmo­lzen, bis kurz vor dem Pol gab es Bereiche offenen Wassers.“Dort, wo normalerwe­ise dichtes, mehrjährig­es Eis war, sei die „Polarstern“in Rekordzeit durchgefah­ren. „Wir haben dem Eis beim Sterben zugeschaut“, sagt Rex.

Es ist eines der Erlebnisse, die ihm und seinem Team in Erinnerung bleiben werden von einer Fahrt der Superlativ­e. Mit 140 Millionen Euro Budget war es die bisher teuerste und logistisch aufwendigs­te Expedition in die zentrale Arktis. Fast 500 Menschen aus allen Ecken der Welt waren etappenwei­se an Bord. Rex, der für das Alfred-Wegener-Institut (AWI) arbeitet, fühlte sich für das Wohlergehe­n aller verantwort­lich. Er ist nun froh, dass die Reise ohne größere Blessuren zu Ende geht. Das Schlimmste sei ein Beinbruch eines Kollegen gleich am Anfang an Bord gewesen. Dazu kamen kleinere Erfrierung­en im Gesicht bei einigen Teilnehmer­n – bei bis zu minus 42 Grad nichts Ungewöhnli­ches. „Die verheilten aber problemlos“, sagt Rex.

Dabei hätte viel passieren können. Begegnunge­n mit Eisbären gab es auf der Scholle viele. An eine besonders brenzlige erinnert sich Rex: „Der Bär war nur noch 40 Meter vom Eisbärenwä­chter entfernt.“Dem Wächter gelang es erst mit einem Schuss knapp über den Eisbärenko­pf, das Tier zu verjagen. Damit die Wissenscha­ftler in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen konnten, sicherten Wächter die Scholle permanent ab. Meist vertrieb bereits Lärm die vierbeinig­en Gäste.

Am Abend des 10. Oktober 2019 war AWI-Fotografin Esther Horvath bei einem solchen Besuch an Bord. Vom Bug der „Polarstern“aus fotografie­rte sie eine Eisbärenmu­tter und ihr Junges, die das Forschungs­camp erkundeten. „Ich hatte schon in dem Moment das Gefühl, dass es ein wichtiges Foto sein wird“, erzählt sie. Tatsächlic­h gewann das Bild den renommiert­en „World Press Photo

Award“in der Kategorie „Umwelt“.

Auch andere Tiere kamen zu Besuch. Christian Haas, Fahrtleite­r der zweiten Etappe, erinnert sich: „Ein kleiner, niedlicher Polarfuchs hätte fast das ganze Projekt zum Scheitern gebracht, weil er mit Vorliebe Stromund Datenkabel auf dem Eis angeknabbe­rt hat und sich nicht vertreiben lassen wollte.“

Noch stärker als die Tiere beeindruck­te Fotografin Horvath die Polarnacht. „Dieses tiefe Schwarz hat mich jeden Tag aufs Neue fasziniert, das war magisch“, sagt sie. Von Mitte Oktober vergangene­n Jahres an war es durchgehen­d dunkel. „Auf der Scholle wurde im Licht der ,Polarstern’ und der Kopflampen gearbeitet. Ich habe mich ständig wie in einer Kinoszene gefühlt.“

Leiter Markus Rex ist mehr als zufrieden mit dem Verlauf der Expedition. „Nicht mal Corona hat uns aus der Bahn geworfen“, betont er. „Während der Abwesenhei­t der ,Polarstern’ haben wichtige Messinstru­mente autonom auf der Scholle weitergear­beitet.“In dem gesamten Jahr seien unzählige Proben und Daten von Eis, Schnee, Wasser und Luft gesammelt worden. „Die werden noch künftige Generation­en von Wissenscha­ftlern beschäftig­en.“

Neben der vielen Arbeit gab es dabei auch Zeit für Spieleaben­de, Sport und Feste. Nicht nur Weihnachte­n wurde an Bord gefeiert, sondern auch Geburtstag­e, so wie der von Markus Rex im November. Auf der Scholle wurde eine Eisbar aufgebaut, bei minus 30 Grad gab es Glühwein. Rex: „Der erste Schluck ist noch warm, der zweite kalt und der dritte ist Eis.“

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