Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Kick it like Kimmich
Das DFB-Team ist in der Ukraine klarer Favorit – dank seines Anführers aus Rottweil
KÖLN/KIEW (SID/dpa) - Joshua Kimmich verbesserte die Moderatorin ganz charmant, er musste es einfach tun. Denn zu Hause schaute seine Mutter Anja zu. Ein sanft gesprochenes „Josuha“sei die korrekte Aussprache seines Vornamens, betonte er bei der Auszeichnung zum besten Defensivspieler Europas. „Dschoschua“sei auch noch halbwegs in Ordnung, aber „Joschua“– nein, „das ist nicht okay“. Das Thema „Kimmich“gegenüber dem englischen „Kimmig“klärte er gleich auch noch auf.
Längst hat Joshua Kimmich sich einen Namen gemacht, auch wenn er noch nicht überall korrekt ausgesprochen wird. Als unumstrittener Chef im Mittelfeld von Bayern München führte er den Club mit zum Meistertitel, Double, Triple, Quadruple, Quintuple. Aus der Nationalmannschaft ist er nach 48 Einsätzen sowieso nicht mehr wegzudenken.
Wer sehen will, was Bundestrainer Joachim Löw dort zuletzt so vermisst hat, sollte sich die letzten Minuten des Supercups vor zehn Tagen anschauen. Als Goldene-Ananas-Pokal war das Spiel zwischen Bayern und Borussia Dortmund geschmäht worden, als überflüssigster Kick des Jahres – und dann brüllte Kimmich beim Abpfiff unter höchster Körperspannung einen Siegesschrei durchs Stadion, dass er sich beinahe den Kiefer ausrenkte. Vorher hatte der 25-Jährige den Ball im Fallen zum entscheidenden 3:2 geradezu ins Tor gezwungen.
„Ich will ihn immer schonen, ihm eine Pause geben – aber dann muss man mit seinem Ärger rechnen“, berichtete Clubtrainer Hansi Flick: „Er will immer auf dem Platz stehen.“Löw sagte am Freitag: „Kimmich ist die personifizierte Leidenschaft und Professionalität, er strahlt Gewinnermentalität aus und findet immer Lösungen.“Beim 3:3 seiner B-Mannschaft gegen die Türkei fehlten solche Tugenden.
Für Kimmich ist mit dem Champions-League-Sieg gegen Paris „ein großer Traum wahr geworden, es ist immer noch wundervoll, die Bilder zu sehen“. Ein Kind sei er gewesen, als er mit 20 von RB Leipzig gekommen sei, um sich in der Kabine der Alphamännchen erst einmal hinten anzustellen: „Ich war ein kleiner Zweitligaspieler, der plötzlich mit den Großen spielte.“Fünf Jahre später ist er selbst ein Großer geworden, zu dem Neuankömmlinge aufschauen. Er spielt aggressiv, so bissig, dass sein Geburtsort Rottweil passend erscheint, manchmal jenseits der Grenze zur Unfairness. Immer mit dem Sieg im Sinn. Mit der Sozial-Initiative „We kick Corona“gewann der Ex-Stuttgarter auch außerhalb des Platzes Profil.
Mit seinen „Bayern-Brüdern“Leon Goretzka, Niklas Süle, Serge Gnabry, neuerdings auch Leroy Sané wird Kimmich nach und nach das Kommando im DFB-Trikot übernehmen. „Wir wollen bestätigen, dass wir dauerhaft da oben hingehören. Wir wollen eine Ära prägen – auch mit der Nationalmannschaft“, sagte er.
Als er kürzlich mal die Kapitänsbinde der DFB-Elf trug, womöglich war es ein Blick in die Zukunft, ist ihm allerdings eines aufgefallen: Sein Bizeps wirkte im Klammergriff des Stückchens Stoff, das so viel Verantwortung bedeutet, nicht gerade imposant. Da müsse er vielleicht „noch ein bisschen aufpumpen“.
Kick it like Kimmich – das könnte das Motto für Löws Nationalteam sein, das sich komplett abgeschottet auf das Nations-League-Duell am Samstag im Corona-Risikoland Ukraine vorbereitet (20.45 Uhr/ARD). „Wir halten uns an die Auflagen und überwachen auch strengstens, dass sich die Spieler daran halten: kein Besuch, Masken im Hotel, Besprechungen in kleinen Gruppen bis auf die Mannschaftssitzung vor dem Spiel. Wir sind in unserer Blase, in der bewegen wir uns“, sagt Löw, der sein seit 327 Tagen siegloses Team in die Erfolgsspur bringen muss, sonst droht der Abstieg in die Zweite Liga. Immerhin kann er auf seine Sieger-Taskforce aus München zurückgreifen um Kapitän Manuel Neuer. „Die Bayern-Spieler bringen die Qualität mit, die man braucht in solchen Spielen. Davon werden wir profitieren.“
Sie sollen die Garanten dafür sein, dass nach den drei nach Führungen verspielten Siegen gegen Spanien (1:1), die Schweiz (1:1) und die Türkei der erste Erfolg überhaupt in der Nations League gelingt. Deutschland liegt nach zwei von sechs Spieltagen mit zwei Punkten hinter Spanien (4) und der Ukraine (3) nur auf Platz drei.
Löw wird radikal umbauen und ganz auf etablierte Kräfte setzen: Auch die zuletzt angeschlagenen Toni Kroos und Timo Werner sollen auflaufen. Auf den Außenbahnen kehren die Leipziger Lukas Klostermann und Marcel Halstenberg zurück. Matthias Ginter und Antonio Rüdiger dürften mit Abwehrchef Süle die Dreierkette bilden. Taktisch will Löw an der Dreierkette festhalten. Sie kristallisiert sich mehr und mehr als System für die EM 2021 heraus. Neben Weltmeister Frankreich und Europameister Portugal wird die DFB-Auswahl dann in München auf Ungarn oder Island treffen, die im November im Play-off-Finale um den vierten Platz in der Gruppe kämpfen werden. „Die Dreierkette hat sich schon in einigen Spielen bewährt“, sagt Löw. Sie biete defensiv mehr Kompaktheit. „Wir können dann zudem mit drei Stürmern spielen und die Außenverteidiger sehr hoch stellen am Flügel.“
j.schattmann@schwaebische.de